Grenzgänger
Denk ich an den wilden Osten, denk ich an Wodka und Kalaschnikows. So das gängige Klischee im Westen, wenn von Russland und seinen ehemaligen Satellitenstaaten die Rede ist. Die Autoren des Erzählungsbandes „Wodka Kalaschnikow“ versuchen, gegen diese Vergröberungen anzuschreiben und ihre postsowjetischen Erfahrungen in Worte zu fassen.
Wahrscheinlich wissen die Amerikaner nach dem Untergang des Sowjetimperiums über Osteuropa genauso wenig wie zuvor. Das von Ronald Reagan einst an die Wand gemalte „Reich des Bösen“ hat bei den meisten US-Bürgern einen festen Platz in der Galerie der Vorurteile. Abenteuerliche Vorstellungen kursieren: Die champagnerschlürfenden neuen Russen, die skrupellose Mafia und die korrupte Bürokratie sind in den Medien und damit auch in den Köpfen der Menschen allgegenwärtig.
Einen neugierigen und vorurteilslosen Blick auf den Osten besitzen nur die wenigsten Menschen im Westen. Das gilt für die Amerikaner genauso wie für die meisten Westeuropäer. Wenn sich ein versprengter Haufen von Literaten und Journalisten aufmacht, den in schwierigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Transformationsprozessen steckenden Osten zu erkunden, sollte eigentlich für Spannung gesorgt sein.
Postsowjetischer Realitätsverlust
Dreizehn vorwiegend in den USA aufgewachsene Autoren mit osteuropäischem Erfahrungs- und Lebenshorizont hat Boris Fishman, Redakteur beim legendären Magazin New Yorker, zusammengetrommelt, damit sie ihre Begegnungen mit dem „Wilden Osten“ in literarischer Form festhalten. Leider sind viele Erzählungen darunter, die weder die neue postsowjetische Realität noch ihren fremden Blick darauf in eine adäquate Sprache zu bringen vermögen. Man merkt vielen Autoren an, dass sie Schwierigkeiten haben, sich auf die andersartige Kultur einzulassen und diese Situation auch nachvollziehbar zu beschreiben. Sie wandeln als neugierige Grenzgänger in einem literarischen Niemandsland.
„Die meisten westlichen Protagonisten in diesen Texten sind … eher Anti-Figuren, was heißt, dass sie in den Ländern, die sie besuchen, nichts wahrnehmen, nur mit sich beschäftigt und voller Dünkel sind“, bekennt Fishman in seinem Nachwort. Und genau darin besteht die Crux vieler Texte. Sie kommen selten über diese wohlbekannte seelische Zustandsbeschreibung hinaus. Tom Bissel versucht in der „Sohn des Botschafters“ diese Schwäche durch eine actionreiche Handlung und einen vermeintlich abgebrühten Helden in den Griff zu bekommen. Doch die Eskapaden des verwöhnten Diplomatensohnes werden ebenso grell überzeichnet wie die mafiöse russische Schickeria, dessen Opfer er fast zwangsläufig wird.
Auch John Beckmans Geschichte („Babylon Revisited“) von einem amerikanischen Diplomaten, der auszieht, um Polen wirtschaftlich wieder auf Vordermann zu bringen, vermag nur die Blauäugigkeit des arroganten Westlers zu spiegeln. Ähnlich oberflächlich und voller Selbstmitleid ist auch die Erzählung „Vaterland“ von Aleksandar Hemon. Hier wird vor ukrainischer Kulisse eine nicht allzu originelle Familientragödie aufgerollt, die nur bedingt ostspezifische Akzente trägt.
Ironie und Melancholie
Dort, wo die osteuropäischen Protagonisten im Mittelpunkt der Geschichten stehen, klart sich das Bild etwas auf. Gary Shteyngart („Shylock an der Newa“) und Charlotte Hobson („Die Flasche. Eine Geschichte aus der Provinz“) spielen gekonnt und amüsant mit traditionellen russischen Literaturmotiven. In ihren Erzählungen finden sie die perfekte Balance zwischen Ironie und Melancholie, die schon die klassischen russischen Erzählungen von Gogol oder Gontscharow auszeichnet hat.
Wer wirklich etwas über die komplexe postsowjetische Seele erfahren möchte, ist mit den Erzählungen der beiden russischen Bestsellerautoren Viktor Pelewin und Vladimir Sorokin am Ende des Bandes bestens beraten. Aus Pelewins („Die mazedonische Kritik der französischen Philosophie“) und Sorokins („Hiroshima“) antihumanistischer Attitüde geht viel klarer hervor, wie groß oder wie klein die kulturelle Schnittmenge zwischen Ost und West eigentlich ist. Vor allem Pelewin zeigt mit seinem durchgeknallten Protagonisten, dem Eurasier „Kika“, dass der „Wilde Osten“ den „Wilden Westen“ viel besser durchschaut hat als umgekehrt.
Dass Fishman diese literarische Expedition angestoßen hat, ist aller Ehren wert. Die nächsten schriftstellerischen Exkursionen Richtung Osten sollten aber noch weiter und tiefer ins eigene Seeleninnere vordringen. Dann wird’s auch was mit dem osteuropäischen Nachbarn.
Jörg von Bilavsky
Boris Fishman (Hg.): Wodka Kalaschnikow. Geschichten aus dem Wilden Osten. Sammlung Luchterhand, München 2006, 398 S., 10 Euro. ISBN 3-630-62078-7