Geschrieben am 1. Oktober 2020 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2020

Alf Mayer über „Das schönste Buch 2020“

Die Ernst-Thälmann-Straße in Leipzig aus dem Mai 1990 © Gerhard Gäbler

Gewalt des Zusammenhangs

Zum monumentalen Band „Das Jahr 1990 freilegen“ von Jan Wenzel

Es trägt den Titel „Schönstes Buch 2020“, kommt aus Leipzig, wurde erst kürzlich mit diesem Preis der Stiftung Buchkunst 2020 ausgezeichnet und entspricht so gar nicht dem, was wir gewöhnlich an Büchern schön finden. Es kommt überwiegend in Schwarzweiß daher, 592 Seiten fadengeheftete Broschur, großformatig, der Buchrücken fast fünf Zentimeter dick. Ein Wälzer. Das Buch tritt werktäglich auf, trägt kein Sonntagskleid sondern Arbeitsmontur, hat den Schmutz noch unter den Fingernägeln und viele gebrochene Herzen im Falz. Ein Buch im Blaumann, Held der Arbeit. Das Layout erinnert an El Lissitzky und Bauhaus, an das „neue Sehen“ und László Moholy-Nagy, an Aufbruch und Revolution, an bis an den Rand genutzte Flugblätter und Infoschriften. Die meisten Seiten sind prall gefüllt, keine Seite gleicht der anderen, jede von ihnen ist eigens gebaut. Oft gibt es eingeblendete Kästen in größerer Schrift. Sie funktionieren als Trenner und Zwischenüberschriften, als zusätzliche Sinnebene. Viele von ihnen könnten Zwischentitel sein in einem Film von Alexander Kluge – mit dem gibt es ohnehin eine große Verbindung. Dazu weiter unten mehr.

Es geht alles so schnell, aber wohin?
Bleiben Sie in Ihrer Heimat, wenn Sie nicht ganz zwingende Gründe für Ihre Übersiedlung haben.
Die D-Mark, jenes Wunderding
Mehr Kapitalismus wagen!
Ja, das ist meine Stimme. Aber ich habe das nicht gesagt.
Sich selbst verstärkende Ereignisketten
Wir sind Deusche. Ist das denn gar nichts mehr wert?

Es geht alles so schnell. Aber wohin?
Ab jetzt hängt alles zusammen. (
Anzeige für ein Fax mit Anrufbeantworter und Telefon von Panasonic)
Herkules als Sisyphos
Kapitalismus klingt von vornherein nach Kapitulation
Frage: Wie ist Gesellschaft möglich? – Antwort: Durch Prozesse der Wechselwirkung
Wo kommen denn auf einmal all diese eigenen Meinungen her?
Die nicht erzählte Geschichte
Erfahrungen aller Länder vereinigt euch!

Wie in den späten Komödien Shakespeares: Jeder bekommt den, den er nicht liebt
Wartesaal Deutschland
Taumel und Erkentnis
Kolonien des Eigensinns
Vor Zeiten, früher, neulich, gestern, heute, morgen, bald, später, nie.

Das sind einige dieser Einblendungen.

Rückführung der Wirklichkeit auf ihre Bestandteile, das ist das Programm der Aufklärung“, steht als letzter groß gesetzter Satz und als Motto in diesem ungewöhnlichen Buch. Es liest sich von hinten und vorn, oder irgendwo in der Mitte, einsteigen kann man überall. Und immer wieder. 

„Das Jahr 1990 freilegen“ ist ein Buch aus vielen anderen Büchern, eine polyphone Montage aus Protokollen und Aufzeichnungen, Interviews und Notizen, aus Briefen und Tagebüchern, Romanen und Erzählungen, kongenial ergänzt mit vielen, teils nie veröffentlichten Fotografien aus diesem Jahr. Ein Jahr lang hat Herausgeber Jan Wenzel gelesen und zusammengetragen, was ihm aus dem Jahr 1990 in die Hände fiel und was im Nachhinein über dieses Jahr geschrieben wurde, hat Kontaktbögen von Fotografen gesichtet. Ein Fund führte zum nächsten, so entstand ein Geflecht aus unterirdisch Verwandtem und scheinbar Gegensätzlichem. „Performatives Lesen“ nennt Wenzel seine Suchbewegung. Es habe ihn interessiert, die eigene Lektüre zeigen zu können. 

Er und sein Gestalter Wolfgang Schwärzler arbeiteten sich schließlich durch eine fabrikhallengroße Menge von Material, bauten Tag für Tag maximal eine Handvoll Seiten. Eine ungeheure Arbeit, vor der man sich verbeugen muss – und ich freue mich, dass die Stiftung Buchkunst einmal einen richtigen Proletarier zum Preisträger gemacht hat. Gewidmet ist das Buch dem Mixedmedia-Künstler Ferdinand Kriwet (1942 bis 2018). Dessen Spezialität waren „Sehtexte“. Ein schönes, informatives Interview von Thomas Hummitzsch mit dem Fotografen und ehemaligen Bürgerrechtler Andreas Rost über die Mitarbeit an dem Buch findet sich auf „intellectures.de„.

Alle Abbildungen aus dem Buch @ Spector Books, Leipzig

Eben: „Das Jahr 1990 freilegen“ – jenes Jahr, das im Schatten der deutschen Wiedereinigung von 1989 lag und das dessen Arbeitsversion war. Mit Dreck unter den Fingernägeln, mit Tränen und Zorn, Fassungslosigkeit und Utopien, Scheitern und Rückzug. Jenes jahr, das zusammenbrachte oder zusammenzwang, was noch nicht oder nie zusammenpasste, das zusammenwollte und doch so oft den Anschluss nicht fand. „Man weiß nicht, was man an der Heimat hat, bis man in die Ferne kommt“, ist ein klassisch performativer Satz. „Fressen Ficken Fernsehen“, sehen wir auf Seite 117 auf einem Plakat bei einer Wahlkampfveranstaltung mit Helmut Kohl in Leipzig. „Die Revolution entlässt ihre Kinder“, und das buchstäblich, finden wir auf Seite 569. Das Titelfoto der aufgerissenen Ernst-Thälmann-Straße in Leipzig aus dem Mai 1990 verstehen die Verleger Jan Wenzel und Anne König auch als Sinnbild „für dieses Jahr, in dem alles umbricht und nichts sicher ist“.

Das Buch wohnt einem Staat in Selbstauflösung bei. Einem Land im Aufbruch. Einem Blick in den Abgrund der Freiheit. Es räumt die Trümmer frei, erlaubt uns allen noch einmal einen genaue(re)n Blick auf eine verschüttete Zeit. Das ist manchmal auch komisch. „Die Zukunft hat wieder einen Namen“, steht auf einem Wahlplakat der SPD. Wir finden Sitzungsprotokolle des Runden Tischs, Fotos aus dem Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport oder von einer Miss-Wahl, Berichte von Betriebsversammlungen und Demonstrationen, die Geschichte des geschiterten Politikers Ibrahim Böhme, ausführliche Interviews, die Günter Gaus mit prominenten Bürgerrechtlern und Politikern geführt hat, Briefe von in der DDR untergetauchten RAF-Terroristen, Reportagen verschiedener Autoren, Einar Schleef wieder in seinem Geburtsort Sangerhausen oder Auszüge aus einem Buch mit dem barocken Titel „Versuch beim täglichen Verlieren des Bodens unter den Füßen neuen Grund zu gewinnen“ (Autor: Wolfgang Fritz Haug). Besonders oft begegnen wir einem verschollenen Schriftsteller namens Martin Gross, der sich 1990 auf eigene Faust aufmachte und in dem dann schon bald schnell „neue Bundesländer“ genannten Territorium unterwegs war. Zu seinem Buch „Das letzte Jahr“ gibt es auf der Impressums-Seite einen ungewöhnlichen Aufruf, den ich hier gerne wiedergebe:

„Lieber Martin Gross, wenn Sie dieses Buch jemals in die Hand bekommen, würden wir uns aufrichtig freuen, wenn Sie Kontakt zu uns aufnehmen. Wir hätten uns sicher eine Menge zu erzählen, denn keiner hat eine solch genaue Mitschrift vom Jahr 1990 verfasst, mit all seiner Dramatik und Rasanz, wie Sie, der sich als literarischer Dokumentarist in eigener Mission auf unsicherem Terrain bewegte.“  

Unsicherer Boden ist auch das Terrain, auf dem sich auch Alexander Kluge am wohlsten fühlt – siehe zum Beispiel seine Erkundung des „30. April 1945“ (meine CulturMag-Besprechung dazu: Erinnerungstechnisch Niemandsland: Die 1000 Augen des Doktor Kluge). Für „Das Jahr 1990 freilegen“ hat er 32 Geschichten beigesteuert. Es ist nicht seine erste Zusammenarbeit mit dem Spector Verlag, in dem schon „Schnee über Venedig“, seine Zusammenarbeit mit Ben Lerner, und 2017 der Ausstellungskatalog zur großen Kluge-Ausstellung im Folkwang-Museum erschienen ist: „Pluriversum“. Das Layout dieses Katalogs war so etwas wie eine Vorstudie für „Das Jahr 1990 freilegen“, in Arbeit und Programm – nur eben reichhaltigst bebildert – ist Jan Wenzels Buchmonument so etwas wie die konkrete Fortsetzung einer anderen wichtigen Kluge-Arbeit, nämlich des in dreijähriger Zusammenarbeit entstandenden, 1981 in schöner Ausstattung bei Zweitausendeins entstandenen Standardwerks „Geschichte und Eigensinn“.  Die drei Hauptkapitel darin waren:

Geschichtliche Organisation der Arbeitsvermögen
Deutschland als Produktionsöffentlichkeit
Gewalt des Zusammenhangs.

Im Vorwort hieß es: „… Vom Leser wird bei diesem Buch Eigeninteresse erwartet, indem er sich die Passagen und Kapitel heraussucht, die mit seinem Leben zu tun haben. Auf diese Weise gliedert sich das Buch rasch auf. Es gibt Bücher, die man von Anfang bis zum Ende liest. Es gibt aber auch Bücher, deren Tugend in der Wiederholbarkeit liegt. Einer liest darin und dann liest er wieder darin.
Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch.“

Dann kann man auch über „Das Jahr 1990 freilegen“ sagen. Gönnen Sie sich dieses Erlebnis.

Alf Mayer

Jan Wenzel (Hg.): Das Jahr 1990 freilegen. Reihe Volte / Expanded. Spector Books, Leipzig 2020. Gestaltung Wolfgang Schwärzler. In Zusammenarbeit mit Jan-Frederik Bandel, Anne König, Christin Krause, Elske Rosenfeld, Andreas Rost, Wolfgang Schwärzler, Monique Ulrich, Anna Magdalena Wolf. Mit Fotografien von Wilfried Bauer, Christian Borchert, Christiane Eisler, Gerhard Gäbler, Ute Mahler, Stefan Moses, Anselm Graubner u.a.. Basierend auf Lektüren von Swetlana Alexijewitsch, Vera-Maria Baehr, Thomas Brasch, Volker Braun, Kurt Drawert, Günter Gaus, Masha Gessen, Václav Havel, Katja Havemann, Birgit Lahann, Wolfgang Leonhard, Christoph Links, Cees Noteboom, Karl Schlögel, Rolf Schneider, Inge Viett und vielen anderen. Mit 32 Geschichten von Alexander Kluge. Spector Books, Leipzig 2020. 592 Seiten, kartoniert, Fadenheftung, 36 Euro.

Oskar Negt, Alexander Kluge: Geschichte und Eigensinn. Zweitausendeins, Frankfurt 1981. 1284 Seiten.

PS.: Ich erlebte das Jahr 1990 als Kulturredakteur der Deutschen Lufthansa. Deren Vorstandsvorsitzender Heinz Ruhnau war von der Wiedervereinigung beseelt, bald gab es schon mehr als 400 Flugverbindungen pro Woche in die DDR, Business-Class vor allem und das bis zu den kleinsten, natürlich schnell unwirtschaftlichen Provinzflughäfen, das Ganze nicht lange von Dauer. Ich hatte grünstes Licht und einige Millionen Westmark für ein mit meinem Freund Dieter Reifarth ausgekochtes Filmprojekt: eine fünfteilige Serie über „Die Geschichte der deutschen Luftfahrt“, realisiert vom DEFA-Studio für Dokumentarfilm, eine Großproduktion, die das Überleben des traditionsreichen Filmbetriebs in Potsdam-Babelsberg für ein Jahr mitsicherte. Es war aufregend und spannend und lehrreich, mit den DDR-Filmdokumentaristen zu arbeiten. Manchmal einfach nur schräg. Für das erste Treffen stellte uns das Westberliner Büro der Lufthansa zur Fahrt „in den Osten“ einen – ungelogen – goldfarbenen Mercedes zur Verfügung. Ich bestand darauf, dass wir damit in Potsdam um die Ecke parkten, damit vorzufahren hätte ich pervers gefunden. Zwei Konferenztreffen weiter begegnete ich einer DDR-Perversion: Ich wollte gerne, es war ein Freitag, das nach Diskussion geringfügig abgeänderte Konzeptpapier wieder mitnehmen und es in Frankfurt noch am gleichen Tag in die Lufthansa-Bürokratie speisen, aber das zweiseitige Schriftstück kam und kam nicht wieder aus dem Vorzimmerbüro zurück. Als ich nachbohrte, stellte sich nicht nur heraus, dass – trotz wichtiger Konferenz mit uns Westlern – nicht nur das Büro um 13.30 Uhr nicht mehr besetzt war, sondern dass es im ganzen DEFA-Komplex nicht ein einziges Kopiergerät gab. Kopierer waren in der DDR potentielle Vervielfältigungsmaschinen für Flugblätter und Subversion, deshalb gab es sie nicht…

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