Geschrieben am 1. Dezember 2020 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2020

Drei Balladen von Friedrich Ani

Die Raben von Ninive

Wir freuen uns, Ihnen hier drei Balladen von Friedrich Ani vorstellen zu können. Sie stammen aus seinem Band „Die Raben von Ninive“, der diesen Herbst erschienen ist.

Balladen sind für den Autor Friedrich Ani eine Kunstform, in der er politisch werden kann, ohne sich agitatorisch zu verhalten. Politisch, sagt er, kann er jedoch nur werden, wenn er die privatesten Umstände seiner Existenz beleuchtet und enthüllt. In ihrer Verschränktheit von Öffentlichkeit und Privatheit belegen diese Gedichte die Gegenwärtigkeit von Balladendichtung und zugleich Anis poetische Kunst.
Seine Texte von ihm bei uns finden Sie hier.

Friedrich Ani: Die Raben von Ninive: Balladen, andere Gedichte und ein Zwiegespräch. Suhrkamp, Berlin 2020. 176 Seiten, gebunden, 18 Euro.

Verbrechen

I
Er lag in seinem Blut
in der Tiefgarage einer Stadt,
ein Mörder, ausgehöhlt von Wut,
tötete in Raserei und hat
sich weiter nicht um ihn geschert.
Lieber Doktor, nennen ihn die Leute,
vertrauenswürdig und begehrt,
so lebte er umschwärmt bis heute.

Ein Mann, den jeder liebt.
Nie verlor er Würde und Geduld.
Ein Mann, der täglich alles gibt.
Alt und jung gewährt er seine Huld.
Er zählte nicht die Stunden und
blieb bis spät, wenn wer zu sterben meinte.
Sein Zuhörn machte fast gesund,
so, wie er Kopf und Leib vereinte.

Wer mordet einen Mann,
dessen Schaffen übermenschlich war?
Der Leidende umarmen kann,
eine Frau, die nie ein Kind gebar,
der unerschrocken, auch bei Nacht,
keine weiten Hausbesuche scheute,
kein großes Geld hat’s ihm gebracht,
und nichts, so schien‘s, was er bereute.

Sein Name: Erhard Rath.
Niemand dürfte prominenter sein.
„Das Opfer einer feigen Tat!“
„Neunmal stach der Killer auf ihn ein!“
Empörung quer durch Stadt und Land.
Alle Spuren führen in die Irre.
Die Kripo, in Details verrannt,
wird ob der Misserfolge kirre.

II

In einem stillen Raum,
fern der aufgewühlten Außenwelt,
versinkt ein Kind in schwarzem Flaum.
Lisa heißt’s, vom Tod schon vorbestellt,
wer ist das, diese Schreckgestalt,
kahl rasiert, verdorrt und voller Wunden,
ein Menschlein, grad vier Jahre alt?
Am Stadtrand hat man es gefunden.

Professor Haller sagt,
hundert Kinder sterben Jahr um Jahr
im Elternhaus, und niemand wagt,
einzustehen für die Opferschar.
Warum nicht? Welche Mutter schweigt,
wenn ihr kaum gebornes Kind, geschändet
und von der Liebe abgezweigt,
wie Müll auf einer Halde endet?

Ein Muttermythos, meint
Haller und erklärt die grause Art:
Nicht sie, sie Mutter, sei’s, die weint,
weil ihr Neuer, unerbittlich hart,
das Kind wie eine Ratte hasst;
es, das ungezogne Ding, muss weinen,
sie opfert’s ihm – und weg die Last.
„Befreit kann sie sich nun vereinen.“

Am Bettrand steht ein Mann,
sah das Bündel zwischen Dreck und Kot,
der Anblick zog ihn jäh in Bann,
und er nahm in seiner klammen Not
das Wesen in den Arm und fing
an zu singen, halbvergessne Lieder,
die plötzlich kamen, als er ging,
sie hallten in ihm zaubrisch wider.

Der Zufallsmann mit Kind,
Witwer und Streifenpolizist,
versteht nicht, dass die Zeit verrinnt,
niemand anruft, der sein Kind vermisst.
Er bittet eine Schwester drum,
Lisas Wangen blütenweiß zu schminken;
als schliefe sie beseelt und stumm
und schien mit einer Hand zu winken.

Und ob sie Lisa hieß?
Weiß man nicht; den Namen gab er ihr
zum Lied, das ihm die Richtung wies
von der Vorstadt bis zur Kliniktür,
ein Song aus seiner Jugendzeit,
traurig-schön so viele, wie auch dieser,
der Soundtrack seiner Einsamkeit.
„Lisa, Lisa, sad Lisa, Lisa.“

Ein Nachbar meldet sich.
In der Zeitung war ein Bild von ihr.
„Sie heulte manchmal schauerlich,
ihre Mutter trinkt schon morgens Bier,
den Vater gibt es nicht im Haus,
Freunde hat sie, Männer ohne Reue,
sie gehn nach Gusto ein und aus,
nur ihnen hält sie blind die Treue.“

Der Polizist sieht nach.
In der Wohnung Schachteln, Shit und Schmutz,
das Kinderzimmer eine Schmach,
von den Wänden blättert grau der Putz.
Am Boden flackt ein Teddybär
ohne Augen. Niemand darf es sagen:
Der Arzt fand sie – und sonst nichts mehr –
in Lisas ausgehöhltem Magen.

Er kann nicht hinsehn und
geht nach gegenüber ins Lokal
„Zum Engerl“, alles Krach und Schund.
Überm Tresen hängt ein Fußballschal
und drunter, eingenickt und blau,
hockt die Mutter, jeder nennt sie Tine,
Bettina Moldau ganz genau,
sie schnarcht mit Leichenbittermiene.

Er weckt sie, sie erschrickt.
„Wo, Frau Moldau, ist die Tochter jetzt?“
Sie giggelt, als sie ihn erblickt.
„Polizist? Hau ab, hier ist besetzt.“
„Wie“, schreit er ins Gesicht der Frau,
„heißt Ihr Kind?“ Sie runzelt bloß die Brauen.
Er: „Lisa?“ – „Lisa? Du bist schlau.“
Sie anzuschaun ist ihm ein Grauen.

III
Kein Wort, kein Sterbenswort.
Totenstille. Schluchzen. Selbstmitleid.
Der funktionale kahle Ort.
Mutter Moldau trägt ein grünes Kleid.
Sie hat sonst keins, das ihr gefällt.
Draußen raucht sie eine Zigarette.
Ihr Kind ist tot und aus der Welt.
Als ob es nie gewunken hätte.

„Der Rath …“ Sie spricht voll Zorn.
„… hat mich angeschrien wie ein Viech,
bei ihm, da hätt ich nichts verlorn.
Was denn? Glaubt der, dass ich vor ihm kriech?
Er meint, ich soll zum Vater gehn,
soll mich selber kümmern um die Trulla.
Zum Vater! Tschüssi, Wiedersehn!
Was ist? Sie kriegte Milch und Schnuller.“

Da, funkelnagelneu,
schwarzer Bildschirm, zweiundachtzig Zoll.
Ein jedes Kälbchen kriegt mehr Heu,
dachte er und schrieb ins Protokoll:
Sie gab dem Kind nur minimal
einen nassen Schwamm zum Wassersaugen.
Am Ende blieb ihr in der Qual
zu kauen nichts als Teddys Augen.

Mit allerletzter Kraft
kroch sie aus der Wohnung kurz nach acht,
hinaus zum Licht, sie hat’s geschafft.
Mama hat den Doktor umgebracht,
sie stach ihn nieder, gnadenlos,
helfen hätt er sollen, sie befreien
von allem, was aus ihrem Schoß
entkam, ihr Leben zu entweihen.

Und ab ins Engerl, wo
unterm Schal am Tresen schon ein Bier
bereit steht; aber erst aufs Klo,
Blut abwaschen, gottverdammte Schmier‘.
Danach der erste Schluck am Tag,
auf zum zweiten, vierten, sechsten Glaserl.
Dass einer wo verblutet lag,
wen juckt’s? „Hast Kummer? Trink was, Haserl!“ 

IV
Vorm Grab am Waldfriedhof
hört der Polizist ein altes Lied.
Allein, wie einst am Rand vom Schwof,
steht er da und hofft, dass sie ihn sieht.
Und sie, sie weiß viel mehr als er.
„Lisa heiß ich, komm, wir tanzen Walzer.“

Die ersten Schritte sind bleischwer.

Doch dann – er tanzt mit ihr, wie sie
mit ihm, ringsum und überall umher,
durchs Dunkel bis zur lichten Wiese,
sie kein Kind mehr, er nicht alt,
der Zeit entfleucht, der Stadt, dem Wald,
auserkoren, unverbrämt.

Und scheu im Eck der Tod: wie er sich schämt.

Deutsche Geschichte

Die Würde des Mörders ist antastbar.
Die Würde des Mitmörders auch.

Einer hat Walter Lübcke erschossen.
Aber nicht allein.
Seinen Schatten putzten
Gauland Weidel Hartwig
Felser Holm Chrupalla
Baumann Müller Storch
Höcke Meuthen Braun
Espendiller und so Fraun
wie die lustige Frau
Ebner-Steiner.

Schrubbten
hart von früh bis später
gewissenhaft die Schatten
ihrer Attentäter.
Falsch.

Gauland Weidel Hartwig
Felser Holm Chrupalla
Baumann Müller Storch
Höcke Meuthen Braun
Espendiller und so Fraun
wie die lustige Frau
Ebner-Steiner

sind nicht Täter, sie sind
Kumpels und Cousins
von nah und fernst,
Brüder sind sie,
Schwestern, Mütter, Väter
solcher Attentäter
wie dem …

Frühjahrsputz 
beim Staatsschutz 
wäre fein, allein: es 
fehlt dem Haus ein Führer,
er jagt bei Tag und Nacht
achtzigtausend Syrer,
die haben unsre Freiheit umgebracht.

Mörder! Mörder! schrein die Putzer,
bejubelt von Claqueuren
weit verstreut im Land.
Heute sind sie noch vermiefte Stutzer,
morgen, wenn wir uns nicht wehren,
morden sie mit eigner Hand.
Falsch.

Solche wie
Gauland Weidel Hartwig
Felser Holm Chrupalla
Baumann Müller Storch
Höcke Meuthen Braun
Espendiller und so Fraun
wie die lustige Frau
Ebner-Steiner

züchten nur
und füttern, wenn sie
Opfer wittern,
braune, treue Ratten,
die sie mit ihrem Samen
aus Dummheit, Hass und
Blut begatten. So kamen

schon zum zweiten Mal
in achtzig Jahren
Gift und Galle unters Volk.
Und das Volk, es strömt
in Scharen, und es jubelt so
wie früher:
Heil, mein Führer, heil.
Und der Staatsschutz, der jagt Syrer,
denn das ist mörderaffengeil.

Auswurf des Herrn

Hanne Ahlers. Sie war vierundfünfzig Jahre
alt. Sie besaß ein Haus, vier
Stockwerk hoch, das hatte einst als rare
Immobilie ihr Vater vor der Tür
einem sterbenskranken Nachbarn
abgeluchst, der hatte keine Nachfahrn.

Vater Ahlers. Er war Pharmazievertreter,
schuftete hart und schaffte
jede Woche tausend Kilometer,
zwischendurch ein schnelles Bier, dazu paffte
er Zigarren, andre Freuden
streng verboten, niemals Zeit vergeuden!

Seine Frau versorgt das Kind und ihre Mieter,
eine Concièrge, immer wach,
immer da, und jeder nennt sie Rita.
Rita Ahlers, niemals Streit im Haus und Krach.
Und das Mädchen hilft ihr tragen.
Später einmal, dann hat sie das Sagen.

Später kam für Hanne viel zu früh im Leben.
Nach einem Sommertag, an
dem in ihr berauscht Gedanken beben
und ihr Aufbegehrn gerade erst begann,
kehrt sie heim und hört sie trauern,
ihre Mutter hinter grauen Mauern.

Auf vertrautem Weg, vermutlich angetrunken,
steuerte er den Wagen
einen Abhang tief hinunter. Funken
spritzten in die Nacht. Polizisten sagen,
Hermann Ahlers sei verblutet.
Frau und Kind von Tränen überflutet.

Zwanzig Jahre war sie alt an diesem Tag. Sie
ließ sich mit ihrer Mutter
zornig und aus purem Trotz im Taxi
zu dem Toten fahrn. Sie bellte vor Wut, er
lag bloß da, wie Leichen liegen,
abgeschirmt von göttlichen Intrigen.

Einer hatte ein Motorrad, ein Verehrer,
er nahm sie mit ins Weite.
„Lass ihn, Kind, der taugt nicht zum Ernährer,
Vaters Wille, horch: Bleib an meiner Seite,
dieses Haus ist unser Erbe,
unsers – bis zum Tag, an dem ich sterbe.

Wenn ich tot bin, Hanne, bleibst du nicht alleine,
um dich herum sind Leute,
die dich kennen, seit du Kind warst. Kleine
Wünsche erfüllst du am besten gleich heute.
Mieter schätzen dies Verhalten,
Ruhe herrscht, und alles bleibt beim Alten.“

Alles, dachte Hanne öfter, blieb beim Alten.
Alle die alten Steine,
alle Räume musste sie verwalten,
Mutter starb nicht. Alleiner als alleine
wurde Hanne einfach älter,
so wie andre Menschen, nur viel kälter.

„Schon seit ein paar Jahren ging sie oft zum Beten.
Hab sie gefragt, warum. Sie
griff mich an und wollte nach mir treten.
‚Solche Fragen stellt man einer Mutter nie!‘,
gab sie bös zurück und weinte
flehend, dass der Tod sie bald vereinte.“

„Ihre Mutter suchte keine neue Bindung,
nachdem Ihr Vater tot war.“
„Jeder Blick war eine Überwindung,
wenn sie Männer sah, sie lachte nie. Sogar
feiern war bei uns verboten.
Unser Dasein kreiste um den Toten.“

Rita Ahlers. Heimlich schnitt sie Stoff in Streifen.
Hängte die Bänder hinten
in den Schrank. Sie musste erst begreifen,
was mit ihr geschah und sich überwinden,
Gottes Botschaft zu entweihen
und sich selbst das Sterben zu verzeihen.

„Letzten Sonntag hat sie es getan, ich schwöre.
Vorher verweilten wir lang
vorm Altar, es sangen hell die Chöre,
doch in meinem Herzen wartete ich bang
aufs Nachhausegehn in Schweigen.
Sie entschlossen neben einer Feigen.“

„Was geschah danach? Was haben Sie gesprochen,
wieder zuhaus, in der Nacht?“
„Mutter meint, es hätt nach Müll gerochen
schon im Flur und in der Wohnung, ihr Verdacht
fiel, auf wen denn sonst, aufs Mädchen,
in der Welt von ihr das kleinste Rädchen.

Hab geputzt, geschrubbt, mich immer fair verhalten.
War das gescheit? Es war dumm.
Andrerseits: Ein Haus war zu erhalten,
hier was richten, dort, ein offnes Ohr reihum.
Vater hätt das wohl gefallen,
Frau und Kind, getreuliche Vasallen.“

Eintopf gabs, vom Mittag übrig. Rita schmatzte,
löffelte in sich hinein.
Hanne, innerlich zerschmettert, kratzte
extra laut im Teller, um sich zu befrein
aus der Stille in der Küche,
eingetunkt in faulige Gerüche.

„Blieben Sie mit Ihr zusammen nach dem Essen?“
„Sie huschte wortlos rüber.“
„Ohne Gruß?“ – „Den hat sie wohl vergessen,
ist doch egal, mir wars so auch viel lieber.“
„Sorgte Sie ihr Wohlbefinden?“
„Nö, sie wollt für sich sein beim Verschwinden.“

„Dennoch sahen Sie nach ihr.“ – „Das stimmt, ich hörte
nichts.“ – „Brannte Licht im Zimmer?“
„Nein, sie sparte Strom, Beleuchtung störte
sie wie Stimmen, es wurde immer schlimmer.“
„Sie nahm Valium seit Jahren.“
„Half nur wenig gegen ihr Gebaren.“

„Ausnahmsweise, Hanne, nahm sie sechs Tabletten
anstatt nur zwei, wie sonst, kein
Zweifel dran, sie war nicht mehr zu retten.“
„Nein, das war sie nicht.“ – „Daran starb sie nicht, nein,
alles war im Eintopf zerstampft.“
„Und? Gierig hat sie in sich reingemampft!“

„Ihre Mutter fiel in schweren Schlaf. Sie blieben
wach.“ – „Hab bald nach ihr geguckt,
hab ganz sacht auf ihrer Haut gerieben.
Sie und mich, der HERR, er hat uns ausgespuckt.
Auswurf sind wir, alle beide,
uns erschuf Er bloß aus Schadenfreude.

Ging zum Schrank. Ich wusste, wo die Streifen hingen.
Einer musste genügen.
Zog den Stoff mit Schmackes, wie beim Wringen,
zu an ihrem Hals, sie blieb ruhig liegen.
Um den Pfosten fest die Enden.
Schuften kann ich gut mit bloßen Händen.“

„Warum, Hanne, waren in dem Stoff drei Knoten?“
„Einfach, dass es besser hält.“
„Möchten Sie noch etwas Ihrer toten
Mutter eingestehn, das ihr vielleicht gefällt?“
„Hab dich gern gehabt, manchmal sehr,
aber wann, ja wann, das weiß ich nicht mehr.“

© Alle drei Balladen aus: „Die Raben von Ninive“, Suhrkamp 2020