Stalking oder Liebe?
Über Patricia Highsmiths „Süßer Wahn“ und „Der Schrei der Eule“

David Kelsey führt nach außen hin ein unauffälliges Leben in Froudsburg. Unter der Woche wohnt er in der Pension von Mrs. McCartney, am Wochenende – so lässt er alle glauben – fährt er zu seiner Mutter, die in einem Pflegeheim wohnt. Stattdessen aber verbringt er diese Zeit alleine in einem Haus, das er auf anderen Namen angemietet hat. „In diesem seinem Haus stellte er sich gern vor, er wäre William Neumeister – ein Mann, der alles besaß, was er sich nur wünschte, der zu leben verstand, lachen und glücklich sein konnte.“ Denn David ist in einer SITUATION – in Patricia Highsmiths 1960 geschriebenen Roman „Der süße Wahn“ stets in Großbuchstaben geschrieben – gefangen: Die Frau, die er liebt, ist mit einem anderen Mann verheiratet. Aber er ist überzeugt, dass Annabelle schon bald ihren Mann verlassen und zu ihm ziehen wird. Deshalb hat er dieses Haus gekauft und gibt sich nun jedem Wochenende detaillierten Fantasien über ihr gemeinsames Leben hin.
Tatsächlich gibt es Annabelle und sie ist mit einem anderen Mann verheiratet. Zweimal hat sie David auf die Briefe geantwortet, die er ihr schreibt. Zweimal in zwei Jahren, wohlgemerkt. Alleine das ist schon ein deutlicher Hinweis auf Annabelles Gefühle. Aber David findet für alles eine Erklärung, in der Regel ist Annabelles Mann schuld an ihrem abweisenden Verhalten. David verweigert sich in seinen Vorstellungen jeglicher Realität – sei es gegenüber Annabelles tatsächlichem Leben oder der Aussicht, dass sie ihren Ehemann verlassen wird. Schließlich ist Annabelle die perfekte Frau in seinen Vorstellungen, sogar kleine Fehler hat er in sein Fantasiebild von Annabelle eingebaut, über die er nachsichtig hinweglächeln kann.

Davids Fantasieleben ist nicht nur ein Mittel gegen Einsamkeit, es hat nach gut einem Drittel des Romans mörderische Konsequenzen: er tötet Annabelles Ehemann in einem unerwarteten Zusammentreffen. Doch mit diesem ersten Mord kommt er davon. Danach – so glaubt er – stehen die Türen für eine gemeinsame Zukunft mit Annabelle offen. Es wird nicht dazu kommen, aber das will er nicht einsehen und hält weiterhin darin fest.
Die begrenzte Erklärungskraft des Lebens
In Davids Verhalten nun sieht Paul Ingendaay in seinem Nachwort vor allem eine literarische Verarbeitung einer unerwiderten Liebe, die Patricia Highsmith zu einer verheirateten Frau empfunden hat. Wenngleich er einwendet, dass das Leben gewiss nicht die Kunst erkläre, führt er im Nachfolgenden aus, wie Highsmiths Leben genau diesen Roman erklärt. Das ist aufgrund der vielen Parallelen zwischen Leben und Werk sicherlich verführerisch und interessant. Jedoch übernimmt er dadurch überwiegend die Deutung, dass David aus Liebe handelt:
„Der Roman behauptet und beschwört mit tausend Zungen, nicht Wahnsinn, sondern Liebe sei die Triebfeder für David Kelseys Handeln. Selten, vielleicht nirgendwo sonst hat Patricia Highsmith die Fähigkeit der Liebe, die Existenz zu verwandeln, mit soviel poetischem Feuer beschrieben.“
Es ist diese Liebe, die David eine „schwer zu definierende, aber Zeile für Zeile spürbare Würde“ gibt, weil er die Idee seiner Liebe in voller Konsequenz lebe.
„Der süße Wahn, was immer das Buch auch von Gewalt und Getriebenheit erzählt, ist dank seiner sehnsuchtsvoll-romantischen Beschwörungsenergie ein Liebesroman, etwa so, wie auch Nabokovs Lolita unter anderem ein Liebesroman ist. Was zugleich heißt: ein Roman über ihren Verlust.“
Deshalb sei es falsch, nach dem moralischen Zuschnitt seiner Hauptfigur zu fragen. Aber es geht hier – im Gegensatz zu dem schlecht gewählten Vergleich mit „Lolita“ – zunächst einmal nicht um moralische Fragen. An Davids Begehren ist nichts unmoralisch. Aber sein Verhalten ist kriminell. Ihm haftet nichts Romantisches an; er bedrängt und verfolgt Annabelle wiederholt, verschafft sich Zugang in ihre Wohnung, bedroht Anwesende. Heutzutage würde man das, was David macht, Stalking nennen. Und im Gegensatz zu den Darstellungen in vielen Romanen und Filmen ist Stalking weder romantisch noch ein Ausdruck von Liebe.
Blasse Frauen
Nun ist es nicht notwendig, mit der Deutung in einem Nachwort übereinzustimmen – ein gutes Nachwort soll Anregungen liefern. Und offenbar ist Ingendaay „das Schicksal eines so offensichtlich gestörten jungen Mannes“ nahegegangen – mir nicht. Mir ist da eher das Schicksal von Effie Brennan nahegegangen. Sie hat sich tatsächlich in David verliebt – aber mit einer imaginierten perfekten Frau kann eine tatsächliche Frau nicht mithalten.
„Sie spielte nicht Klavier wie Annabelle, hatte nichts von Annabelles Liebreiz – ihre Wohlanständigkeit war nur die Pose einer im Grunde gewöhnlichen Person, die sich in Frauenzeitschriften und der Ratgeberkolumne billiger Illustrierter angelesen hat, wie sich ein Mädchen beim Rendezvous mit einem Mann benimmt. Diese Blätter fixierten die Mädels regelrecht auf Sex, indem sie ständig davon faselten, »wie weit« ein anständiges Mädchen gehen durfte, und im übrigen jeden Mann als Lustmolch abstempelten. Aber ließen sich die meisten Mädchen nicht mehr oder weniger auf ihre Triebe reduzieren? Die meisten hatten doch nur das eine Ziel, mit spätestens fünfundzwanzig zu heiraten und Kinder zu kriegen.“
In Davids Fantasie spielen indes weder Kinder noch Sex eine Rolle – vielmehr ist sie völlig asexuell. Sein Freund Wes deutet sogar einmal zu Davids Entrüstung an, dass David impotent sein könnte. Tatsächlich ist die völlige Abwesenheit von körperlichem Verlangen auffällig und lässt sich nicht nur mit der idealisierten Überhöhung von Annabelle erklären. Es macht ihn auch zu einer Gegenfigur zu den anderen Männern in diesem Roman, gerade Wes protzt gerne mit seinen Eroberungen und Flirtereien.

Effie wird nun immer mehr zu einem Ärgernis für David. Sie bedroht seine Lügengebäude durch Neugier und Nachfragen. Aber leider ist sie so von dem Gedanken erfüllt, dass sie wiederum David liebt, dass sie völlig arglos bleibt. Sie ist – wie Annabelle – vor allem ein Plot-Element, das benötigt wird, um Davids Wahn deutlich zu machen und die Spannung zu erhöhen. Abgesehen davon könnte man in beiden – mit viel Nachsicht – Manifestationen der Erwartungen sehen, die an Frauen gestellt werden: sie sollen verständnisvoll und bescheiden sein, entscheidend ist, dass sie Männern gefallen. Jedoch ist Effies Duldsamkeit und Verständnis ebenso endlos wie Annabelles Hilflosigkeit.
Erzählperspektiven und Misogynie
Diese flache, misogyne Charakterisierung hängt eng mit der Erzählperspektive zusammen: Es ist Davids Perspektive, aus der personal erzählt wird, mit viel erlebter Rede und inneren Monologen. Das erinnert an psychologische Gesellschaftsromane, in diesem Fall aber ist das subjektive Erzählen Grundbedingung für den Spannungsaufbau: Aufgrund seines Wahns ist David ein äußert unzuverlässiger Erzähler, durch ihn wird langsam auf die Katastrophe hingesteuert. Anfangs wird langsam eine Normalität etabliert, die erst durch kleinere Irritationen Risse bekommt und schließlich ins Wanken gerät. David steht unweigerlich eine Desillusionierung bevor, eine Enttäuschung, die er um jeden Preis verhindern will.
Diese erzählerische Anlage ist eine klare Verbindung von Highsmith zu den Domestic Thrillers, in denen die Erzählerinnen sehr häufig unzuverlässig sind, meist allerdings weniger aus Wahn als aufgrund eines Traumas. Verbunden aber sind sie in der Unsicherheit, die sie erzeugen – auf Seiten der Figuren als auch der Leser*innen. Sie ist grundlegend für das Unbehagen, das einen beim Lesen beschleichen soll.
Beobachtungen oder: schon wieder ein Stalker
Ein Voyeur ist auch Robert Forester, der Protagonist in Patricia Highsmiths 1962 erschienenen „Der Schrei der Eule“. Eines Abends hat er zufällig eine junge Frau entdeckt, die er seitdem immer wieder beobachtet. Er will sie nicht kontrollieren oder überwachen, vielmehr vermittelt ihm sein Voyeurismus ein Gefühl von Sicherheit. Ihm gefällt „ihre ruhige Gelassenheit, ihre offensichtliche Liebe zu dem heruntergekommenen Haus, ihre spürbare Zufriedenheit mit dem Leben, das sie führte.“ Dazu gehört auch ihr Freund, der sie regelmäßig besucht und dann essen sie zusammen. „Am liebsten beobachtete er sie beim Hantieren in der Küche – ein Glück, daß die Küche drei Fenster hatte, vor denen mehrere Bäume standen, die ihm Deckung gaben.“ Sie symbolisiert die Zuflucht eines sicheren Heimes, die ihm in seinem Leben fehlt.
„Auch wenn kein Mensch jemals verstehen würde, daß der Anblick einer jungen Frau, die ruhig ihre alltägliche Hausarbeit verrichtete, auch ihn ruhiger werden ließ, ihm vor Augen führte, daß das Leben für manche Menschen einen Sinn hatte und Freude machte, und daß ihn dieser Anblick beinahe dazu verleitete zu glauben, er könnte sich diesen Sinn und diese Freude zurückerobern. Dieses Mädchen half ihm dabei.“

Um diesen Sinn zu finden, ist Robert nach der Trennung von seiner Ehefrau Nickie nach Langley in Pennsylvania gekommen, um zur Ruhe zu kommen und wieder zu sich zu finden. Das Beobachten dieser Frau hilft ihm dabei, jegliche sexuelle Bedürfnisse weist er – wie so viele Highsmith‘ Protagonisten – weit von sich. „Normalerweise beobachteten Spanner Frauen beim Ausziehen. Und angeblich hatten sie noch andere anstößige Gewohnheiten. Doch was er verspürte, war eher eine Art quälender Durst, der gestillt werden mußte.“
Also beobachtet er Jenny Thierolf in ihrem Haus – und eines Abends passiert, was passieren muss: Jenny entdeckt ihn. Jedoch ruft sie nicht die Polizei, vielmehr redet sie mit ihm und lädt ihn schließlich in ihr Haus ein. Sie vermutet, er habe Depressionen, sie weiß, wie das ist. Anfangs ist es Robert gar nicht recht, dass sie einander kennenlernen. Jenny verkörpert – wie Annabelle im „Süßen Wahn“ – eine idealisierte Weiblichkeit, mit der die reale Frau nicht mithalten kann. Schon bald erfährt er, dass Jennys Bruder gestorben ist und sie an ihrer Verlobung mit Greg zweifelt. Das perfekte Leben, das er für sie ausgemalt hat, die perfekte Häuslichkeit, wird es nicht geben.
Jenny versteht, dass Menschen füreinander etwas verkörpern können – darin sieht sie ihre Seelenverwandtschaft zu Robert. Sie dreht gewissermaßen den Spieß nun um: Fortan ruft sie ihn an, sucht seine Nähe. Jedoch sind weder Jenny noch Robert brutal oder aggressiv, sondern stets sehr kontrolliert. Sicherlich gibt es Übergriffigkeiten in die jeweiligen Privatsphären, vor allem aber einen sehr vorsichtigen Umgang miteinander.

(c) Pidax Film
Es ist Jennys Verlobter Greg, der gewalttätig wird. Jenny trennt sich von ihm und er will diese Trennung nicht wahrhaben. Für ihn ist klar, dass Robert Jenny verführt habe und er will sie zurück. In seinen Aussagen und Verhalten ist klar zu erkennen, dass Jenny für ihn ein Besitz ist. Das fällt sogar anderen auf, die ihn darauf hinweisen. Aber Greg hört auf niemanden. Angefeuert von Roberts schlichtweg wahnsinniger Ex-Ehefrau Nickie setzt er nun alles daran, Roberts Leben zu ruinieren. Nickies Motive scheinen schiere Bösartigkeit zu sein, sie ist eine Karikatur der irrationalen „Hexe“, die einfach aus Lust und Übermut das Leben zweier Menschen ruinieren will.
Eine andere Perspektive, eine andere Wirkung
Im Gegensatz zu vielen anderen Highsmith-Büchern kommt in „Der Schrei der Eule“ der Wahnsinn nicht durch die personale Erzählperspektive in das Buch. Lediglich am Ende wird kurz aus Gregs Perspektive erzählt, zuvor entwickelt sich das bekannte Highsmith-Motiv der zwei gegenübergestellten Männer aus der Perspektive des kontrollierten Mannes, für den ein anderer Mann eine Obsession entwickelt. In Highsmiths Romanen ist Liebe eine besitzergreifende, destruktive Leidenschaft, die zu Mord und Gewalt führt. Genau deshalb fürchtet sich Robert auch regelrecht davor, mit Jenny tatsächlich eine Beziehung zu führen. Ein Kuss ist der engste körperliche Kontakt.
Greg und Nickie sind als Gegenfiguren so überzeichnet, dass von Anfang an klar ist, dass ihre Beschuldigungen gegen Robert – er sei wahnsinnig und gewalttätig– unwahr sind. Dadurch wird keinerlei Misstrauen an der Hauptfigur gesät, vielmehr ist es eine wohltuende Abwechslung, dass Robert zwar psychisch labil ist – er war wiederholt wegen Depressionen in Behandlung –, aber eben nicht gewalttätig.
Die Macht der Gewöhnlichkeit

Patricia Highsmith hat „Der Schrei der Eule“ für eines ihrer schwächeren Bücher gehalten, allerdings sollte man Selbsteinschätzungen von Autor*innen nicht unbedingt folgen. Tatsächlich kondensiert dieses Buch viele Aspekte ihrer vorherigen Werke: die Macht von Obsessionen; die Schrecklichkeit des Kleinstadtlebens; sublimierte Sexualität, die in den Wahn führt. Es ist jedoch vor allem die Stimmung, die dieses Buch von anderen Highsmith-Büchern unterscheidet: Beide Perspektivfiguren – Robert und Jenny – haben wenigstens depressive Verstimmungen, dadurch durchzieht dieses Buch eine konstante Düsterheit, die sich sehr gut mit der Dämmerung vergleichen lässt, die Robert am Anfang des Buchs ängstigt.
„Es liegt nur an der Dämmerung, dachte er. Er mochte sie nicht einmal im Sommer, wenn sie langsamer hereinbrach und erträglicher war. Im Winter, hier in dieser kahlen Landschaft Pennsylvanias, die er nicht gewohnt war, überfiel sie einen so plötzlich, daß einem angst werden konnte. Wie ein unerwarteter Tod. “
Patricia Highsmith ist berühmt für das konstante Unbehagen, das sie in ihren Büchern erzeugt – für die gewalttätigen Stimmungen, die unter der Oberfläche brodeln. Jedoch neigen ihre Figuren auch oft zu irrationalen Entscheidungen, die sich nicht immer aus der jeweiligen Charakterisierung ergeben. In „Der Schrei der Eule“ nun sind die Handlungen von Robert und Jenny durchaus nachvollzuziehen, sie sind gewöhnlicher und alltäglicher. Man mag sie daher für konventioneller halten, aber gerade darin liegt die Stärke dieses Buchs. Denn ihre Gewöhnlichkeit verbindet sich erzählerisch mit der atmosphärischen Düsterheit. Alltägliche Beobachtungen und Empfindungen wie der titelgebende Schrei der Eule werden für Jenny zu Symbolen des Todes. Als sich Robert und Jenny darüber streiten, ob Robert nach einer Prügelei mit Greg zur Polizei gehen soll, sorgt sich Jenny um ihr Abendessen und fragt sich, ob sie lieber vorher oder nachher die Hühnchenpasteten essen sollten. Das Unbehagen liegt hier in den Details. Deshalb mag „Der Schrei der Eule“ auf den ersten Blick für manche ein eher konventionelles Buch sein. Für mich indes ist es eines von Highsmiths besten.
Patricia Highsmith: Der süße Wahn. Übersetzt von Christa E. Seibecke. Diogenes Verlag, Zürich 2003. 443 Seiten, 21,90 Euro.
Patricia Highsmith: Der Schrei der Eule. Übersetzt von Irene Rumler. Diogenes Verlag, Zürich 2001. 432 Seiten, 21,90 Euro.
Beide Titel erscheinen am 9. Dezember 2020 mit neuem Cover in einer neuen Ausgabe für dann je 13 Euro.
Hier geht es zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3 der Highsmith-Reihe von Sonja Hartl.