Geschrieben am 1. Februar 2021 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2021

Peter Münder: Bill Buford „Dreck“

Als Erbsenschäler, Blutsauger und Hummer-Hypnotiseur in Lyon

Die Hitze im Washingtoner Restaurant „Citronelle“ (siehe „Heat“, 2008) hatte der amerikanische Reporter, Buchautor und „New Yorker“-Redakteur Bill Buford, Jahrgang 1954, als Hilfskoch ziemlich problemlos verkraftet. Nach einem weiteren Total-Immersion-Experiment in italienischen Pasta-Küchen suchte er den nächsten Thrill im anspruchsvollsten Gastronomie-Umfeld überhaupt – nämlich in Lyon, der Domäne von Starkoch Paul Bocuse. Ähnlich wie in seiner legendären Fußball-Hooligan-Reportage „Among the Thugs“ von 1991 zeigt der Langzeit-Beobachter Buford nun auch in „Dirt“, dass er mit extremen Herausforderungen über sich hinauswächst und grandiose Reportagen fabrizieren kann. Sein manisches Erkenntnisinteresse kombiniert er mit einem langen Atem: Buford bohrt, forscht und grübelt solange, bis alle Aspekte beleuchtet sind und keine Fragen offen bleiben. – Von Peter Münder.

„Ich will nur lernen, wie man in Frankreich wirklich gut kocht“, war Bill Bufords Antwort an die irritierten Restaurant-Chefs in Lyon, bei denen der wie ein Rugby-Spieler gebaute Amerikaner plötzlich in der Küche stand, um als unbezahlter Praktikant malochen zu können. Für den manischen Meister grundlegender „Forschungsprojekte“, der mit seiner Frau Jessica und den beiden damals dreijährigen Zwillingen Frederick und George von Manhattan nach Lyon – ins Herz der ultimativen Top-Kulinarik – übergesiedelt war, gab es überhaupt kein Problem: Französisch beherrschte seine Frau zwar perfekt, aber er musste es erst noch lernen; an die rigorosen Hierarchien und die beinharten Regeln französischer Sterne-Restaurants musste er sich auch noch gewöhnen; die mörderischen Arbeitsschichten von bis zu 18 Stunden jedoch täglich, das alles hatte er schon vorher in ähnlicher Form im Washingtoner Edel-Restaurant „Citronelle“ erlebt: Wo also war das Problem? Er wollte jedenfalls alle bürokratischen Hürden (Visa-Anträge, Wohnungssuche, Kita-Plätze etc.) nehmen und sich als Küchensklave wie bisher schon auch den schwierigsten Herausforderungen stellen. Für Bill Buford war Lyon eine schöne Herausforderung und Bewährungsprobe, bzw. der Stoff, aus dem sich üblicherweise Initiations-Rituale ergeben: Je übler und schwieriger der Härtetest, desto beglückender die Akzeptanz der Skeptiker. Das war jedenfalls Bufords Erfahrung gewesen. Und tatsächlich wurde ja aus dem für neun Monate anvisierten Lyon-Gastspiel ein Aufenthalt von fünf Jahren. Die hastige Rückkehr nach New York unternahm Buford mit der Familie auch nur, weil die Zwillinge inzwischen viel besser Französisch sprachen als Englisch und ihre Englischkenntnisse rapide schrumpften. Bufords Experiment war jedenfalls gelungen: Seine Total-Immersion im  kulinarischen Kosmos hatte trotz aller nervtötenden Erfahrungen mit pedantischen Regularien, aversiv eingefärbten Provinz-Possen und Mobbing-Erfahrungen als Küchensklave schließlich doch zur gelungenen Akzeptanz geführt. 

Überlebensgroß: Der Langzeit-Analytiker

Keine Frage: Den Reporter, Buch-Autor, ehemaligen „Granta“-Herausgeber und „New Yorker“-Redakteur sollte man nicht unterschätzen. Schon Martha Gellhorn, die für „Granta“ Reportagen schrieb und Bill Buford als Lektor, Agent und Verleger erlebte, war begeistert von diesem „volcano of energy“ – bis es zum Zwist wegen Bufords trödeliger Unzuverlässigkeit bzw. seines idiosynkratischen Zeitgefühls kam und Martha den Kontakt abbrach. Sie fühlte sich jedenfalls, wenn sie mit ihm zu tun hatte, immer wie eine Figur in „Warten auf Godot“, schrieb die Gellhorn-Biographin Caroline Moorehead. 

 Er selbst bezeichnet seine träumerischen, zwischen Nabelschau und Hyper-Aktivität angesiedelten Phasen als eine Art „Zen“-Meditation. Ich hatte ihn, als er vor 30 Jahren seine grandiose Hooligan-Reportage „Geil auf Gewalt“ veröffentlichte, in seinem Londoner Granta-Büro interviewt und als beeindruckenden Autor mit gigantischem Faible für Extremsituationen kennengelernt. Bill Buford sprach über Straßenschlachten, Prügeleien mit Bobbys, Verwüstungen und wüsten Ultras in Stadien wie über merkwürdige meteorologische Phänomene, denen er unbedingt auf den Grund gehen musste. Wie konnte es angehen, dass sich britische lethargische Lemminge mit den aggressiven Exzessen von Fußball-Hooligans längst abgefunden hatten und nur irritiert den Kopf schüttelten, weil er als ahnungsloser Amerikaner ohne Soccer-Kenntnisse sich so aufregte über zertrümmerte Schaufenster, abgefackelte Autos, Straßenschlachten mit der Polizei  und demolierte Zugabteile? So begann der „Granta“-Herausgeber damals seine achtjährige Langzeit-Studie: Von Montag bis Freitag redigierte der ehemalige Shakespeare-Scholar und Cambridge-Absolvent literarische Texte und diskutierte mit James Fenton, Salman Rushdie, Kapuszinsky, Redmond O´Hanlon oder Enzensberger über ihre nächsten Beiträge, während er an den Wochenenden mit grölenden, betrunkenen Schlägern in London, Turin oder Düsseldorf unterwegs war und eine Art Schlachtfeld-Tourismus betrieb, wobei er bald zum Soziologen mutierte. Sein überraschendes Fazit nach achtjährigem Hooligan-Kreuzzug mit all den faschistoiden Typen lautete ja: „Hier waren keineswegs Unterprivilegierte oder Entwurzelte unterwegs, die ihren Frust kompensieren wollten oder an irgendwelche obskuren Rituale der britischen Arbeiterkultur anknüpfen wollten – vielmehr hatte eine neue Konsumentengeneration ihre faszinierende, anarchistische  Spielwiese entdeckt, auf der sie die rasende Sau raus lassen konnten. Sie verstießen gegen jede Regel, die es gab: Wenn man nicht stiehlt, stehlen sie, wenn man nicht auf den Boden pisst, dann pissen sie auf den Tisch, wenn man etwas bezahlen muss, dann klauen sie, eben – Sie können jede erdenkliche Regel betrachten, die wir für selbstverständlich halten“, erklärte Buford damals. „Die Typen machten genau das Gegenteil.“ Diese „Total Immersion“ mit extrem langwierigen Recherchen unter Schlägern, National-Front-Faschisten und Binge-Säufern führte schließlich nach achtjähriger Inkubationszeit zu seinen faszinierenden Analysen.  

Ähnlich verschlungen und auf Umwegen verläuft Bufords Quest auch in „Dreck“. Allerdings im kulinarischen Ambiente, wo Aggressionen, Mobbing, Rassismus und Demütigungen  in der Küche praktiziert werden.

Ziemlich früh ahnen wir jedenfalls, dass es dem amerikanischen Praktikanten (ohne Bezahlung) nicht nur um die penible Bastelei am filigranen Blätterteig, um das fachgerechte, von französischen Pedanten besonders geschätzte Schälen von Erbsen (!!!) oder um eine gülden leuchtende leckere Entenbrust geht. Diese detailfetischistischen Passagen („Die Mayonaise ist für die Säure“) über 1200 französische  Käsesorten, die Wurstproduktion und den richtigen Umgang mit Eiern fand ich viel zu redundant und banal ­– bis dann eben deutlich wird, dass es dem Kochsklaven Buford eigentlich um die italienischen Kochkünste während der Renaissance geht und die kulinarische Pionierarbeit zur Zeit der Medici heutzutage in Frankreich verdrängt und tabuisiert wird. Er ist also als Museums-Detektiv auf Spurensuche im Medici-Biotop unterwegs, um den Franzosen ihre hübsch pochierten Plagiate aufs feine Limoges-Porzellan zu legen. Bufords These läuft darauf hinaus, dass die authentische, unübertroffene französische Küche eigentlich während der Renaissance aus Italien importiert wurde. Das darf er unter den Zwei- oder Drei-Sterne-Köchen mit ihren meterhohen Kochmützen natürlich nur vorsichtig andeuten, weil ihr Nationalstolz durch diese häretischen Thesen zutiefst verletzt wird. Köstlich, wie er dennoch den französischen Sterne-Köchen ihre Empörungsattacken und Wutausbrüche aus dem Bauch kitzelt, wenn er aus alten italienischen Werken des 17. Jahrhunderts zitiert, die zuerst Gerichte beschrieben, die dann erst viel später in Frankreich bekannt und nachgekocht  wurden. Oder wie er, auf den Spuren dieser italienischen Renaissance-Köche, ein altes Schloss besucht, um vielleicht doch noch irgendwelche Unterlagen, Briefe, Tagebücher, Rechnungen, Inventarverzeichnisse von La Varenne ­– einem der ersten Chronisten italienischer Kochkunst und wahrscheinlich Erfinder des Ragout – zu finden. Er trifft beim Erkunden des Anwesens im Hof auf den Schlossherrn und beginnt seine Feldstudie: 

O-Ton Buford:  Ich stellte mich dem Mann vor und erklärte ihm, warum ich hier war.
„La Varenne“ sagte er. „Ja. Hab von ihm gehört.
„Er war Koch bei Marquis du Ble´“, fuhr ich fort. „Viele betrachten La Varenne als den Begründer der französischen Küche.“ 
Der Besitzer starrte mich an. Er war Spanier: Monsieur Olvidaros. Vielleicht war die französische Küche nicht seine Stärke.
„Man glaubt, dass er hier gekocht hat, aber seine Küche ist im 18. Jahrhundert abgebrannt.“
„Ja, damals hat ein Feuer den Südflügel zerstört.“
Ich schilderte, was ich zu finden hoffte, irgendeinen Beleg, ein Fragment, irgendwelche Dokumente.
„Wann war das?“
„Von 1630 bis 1650.“
„Nein.“
„Nein?“
„Damals waren die gar nicht hier. Sie waren in Paris.“
„In Paris? Zwanzig Jahre lang?“
„Hier war jedenfalls niemand.“
Es ergab keinen Sinn. „Das kann nicht sein.“
„Das Schloß stand quasi leer.“
„Und was ist mit Nicolas du Blé, seinem Erstgeborenen?“
„Über den weiß ich nichts.“
„Es heißt, er sei hier geboren worden, im Januar 1652. Laut
Kirchenbüchern. In Chalon sur Sao.“
„Davon wissen wir nichts.“ On ne sait pas.
„Und sein Vater“, drängte ich weiter, zunehmend ratlos, „er war Soldat, immer im Krieg…“
„Ja.“
„Wie konnte er in Paris eine Armee zusammenstellen?“
„On ne sait pas“. Er starrte mich an. „Jedenfalls gibt es da nichts.“
„Nichts?“
„Nichts.“
Ich glaubte ihm nicht, wenn ich auch nicht  annahm, dass er mich belog. Er wusste es wohl wirklich nicht. Aber was ich glaubte oder nicht glaubte, spielte hier sowieso keine Rolle. Die Küche war nicht mehr da, sämtliche Unterlagen waren verschwunden. Selbst das Haus in Paris existierte nicht mehr. Meine Suche nach einem verborgenen Schatz? Vergeblich. Das dreieinhalbseitige Vorwort zu „Le Cuisinier Francois“ enthält alles, was wir über La Varenne wissen. Ich würde wiederkommen.“ 

Ja, natürlich würde dieser Museums-Detektiv, der sich selbst als „obsessiv“ outet, wiederkommen. Es gibt ja noch so viel zu klären und zu recherchieren. Vor allem auch die Frage, ob das mysteriöse, wurmstichige Werk  „L’Ècole des ragouts“ von La Varenne 1668 in Lyon veröffentlicht, das Buford  auf ebay.fr entdeckt und gekauft hatte, tatsächlich eine Fälschung ist.   

Die „Lunatics Authors“-Connection

Bill Buford hat eine besondere Affinität zu „Lunatic Authors“ wie James Fenton, George Orwell und dem tollkühnen polnischen Kriegs-Reporter Ryszard Kapuscinski: Die mussten unbedingt historisch bedeutende Ereignisse miterleben – auch wenn dies lebensgefährlich war: Wenn der Dichter/Reporter James Fenton („The Fall of Saigon“) also während der Einnahme Saigons durch die Vietcong deren Panzer anhält, um als Anhalter hinten aufzuspringen und beim Sturm auf die US-Botschaft dabei zu sein, so erklärte Buford in einem „Granta“-Editorial , dann war diese Entschlossenheit, einen historischen Moment zu erleben, bedeutend für uns Zeitgenossen: „A literary lunatic who visited places he wasn´t meant to, but returned able to satisfy a need for a narrative answerable to the world“. 

Zum Erfolgsgeheimnis von Bufords „ Granta“-Herausgeberschaft (bis 1995) gehörte diese Vorliebe für Autoren, die viel riskieren und sich auch in umkämpften Kriegszonen umsehen. Die hat Buford regelmäßig neben anspruchsvoller Belletristik oder Werken junger US-Autoren veröffentlicht und mit diesem spannenden Mix damals die Auflage schnell von 50 000 auf 100 000 verdoppelt. Man muss also kein Meister-Detektiv sein, um zu ahnen, dass sich Bill Buford insgeheim auch zu dieser Garde risikofreudiger Literaten zählt – seine Suche nach dem ultimativen Thrill hat sich aber nach seinen Hooligan-Abenteuern offenbar völlig auf  die Zweisterne-Haute Cuisine verlagert, was ich mir nur mit einer in England entwickelten  Aversion gegen Fish and Chips erklären kann. In den letzten Jahren hat Buford jedenfalls hauptsächlich als Food-Writer für den „New Yorker“ geschrieben („Mastering the Art of Making a French Omelette“).   

Zurück zum nachhaltigen Dreck

In „Dreck“ treffen wir zum Glück neben dem Lieferanten subtiler Feinheiten anspruchsvoller Rezepte auch noch den Spezialisten für Härtetests und Extremsituationen wieder. Wenn der amerikanische Praktikant sich etwa als Assistent beim Schlachten eines Schweines als Blutsauger betätigt, dann geht es ja eigentlich nur um die Fabrikation einer „typisch französischen“ Wurstsorte. Aber dafür rammt der Bauer dem Schwein sein Messer in den Hals und Buford muss das in einen Behälter strömende Blut gewissenhaft umrühren, um das Gerinnen zu verhindern, wobei er auch noch Blut direkt aus dem Schwein zu saugen hat. Damit hat er nicht nur diesen klandestinen, ritualisierten Härtetest, sondern auch einen heiklen Initiationsprozess bestanden, der ihn endgültig als „Tough Chef“ etabliert.   

Aber seine Beschäftigung mit der Zubereitung von Fleischgerichten ist viel zu ausführlich und intensiv – wahrscheinlich hatte er beim Schreiben vor allem an amerikanische Leser gedacht, die Enten, Vögel, Hühner oder Schweine-Steaks besonders schmackhaft finden. Vegetarier dürften sich durch diese allzu üppigen Passagen über Fleischrezepte dagegen eher in ihren Essgewohnheiten bestätigt sehen. Interessanter als seine Betrachtungen über alle möglichen ausgefallenen Saucen finde ich übrigens Bufords Umgang mit Hummern: Die  hypnotisiert er mit etlichen Streicheleinheiten am Kopf, bevor er sie in den Ofen schiebt. Es geht also offensichtlich auch ohne kochendes Wasser!

Den „Dreck“, den Bill Buford bei Ausflügen aufs Land in unberührte, unverpestete Regionen kennenlernte, entdeckte er bei Bauern auf dem Land, die traditionelle Anbaumethoden praktizierten und auf den Gebrauch von Chemikalien zur Unkrautvernichtung völlig verzichteten – einfach, weil die ganze Chemie-Scheiße ihnen zu teuer ist. Die hierzulande oft als Glaubensfrage betrachtete Diskussion über Nachhaltigkeit und Öko-Methoden scheint vielen Franzosen eher fremd zu sein. Jedenfalls empfand Bill Buford beim Anblick eines unverseuchten Klumpens Erde, auf dem alle möglichen Tierchen munter herumkrabbelten, starke Glücksgefühle: Nicht nur das unbehandelte Mehl seines befreundeten Baguette-Bäckers Bob gehört nämlich für ihn zum Auskosten der Lyoner Lebensqualität, auch der unbehandelte, natürliche „Dreck“ ist für ihn ein Synonym für diese immer seltener werdende Lebensqualität. 

Bill Buford ist es jedenfalls gelungen, in mehreren Genres zu wildern und damit einen spannenden Mix aus Reportage, Kochbuch und Culture-Clash Impressionen zu liefern, den er mit faszinierenden historischen Exkursen ­– meiner Ansicht nach sind das die brillantesten Passagen – würzt. 

Peter Münder

Bill Buford: Dreck. Wie ich meine Familie einpackte, Koch in Lyon wurde und die Geheimnisse  der französischen Küche entdeckte (Dirt. Adventures in Lyon as a Chef in Training, Father, and Sleuth Looking for the Secret of French Cooking, 2020). Aus dem Englischen von Sabine Hübner. Carl Hanser Verlag, München 2020. Hardcover, 511 Seiten, 26 Euro.

Tags :