Am Anfang war das Bild

Eigentlich wollte Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) ja Maler werden, dann entschied er sich doch für das Schreiben. Aus starken Bildern bezog er die Inspiration für seine Erzählungen, Kriminalromane, Hörspiele und so weltberühmte Dramen wie „Die Physiker“ oder „Der Besuch der alten Dame“. Die gigantische, aufregende Biographie von Ulrich Weber, jetzt zum 100. Geburtstag des Schweizer Schriftstellers erschienen, eröffnet neue Perspektiven zu dessen Entwicklung, Weltbild und seinem Theaterverständnis und geht mit brillanten Exkursen auf Verfilmungen und unvollendete Arbeiten der beeindruckenden „Produktions-Fabrik FD“ ein. – Von Peter Münder
„In Dürrenmatts Werken, den bedeutenderen jedenfalls, steckt etwas Raubtierhaftes, eine drohende und gefährliche, eine unberechenbare Kraft… Kein Zweifel, er gehört zu den bösen und den boshaften Künstlern… Er kennt keine Barmherzigkeit, er lässt sich nicht domestizieren.“ – Marcel Reich-Ranicki über FD (in: „Deutsche Literatur heute“, 1966)
„Wenn Dürrenmatt etwas nicht mochte, dann das Gefühl von Routinearbeit: Schreiben musste für ihn ein Experiment, ein gedankliches und künstlerisches Abenteuer sein.“ – Ulrich Weber in seiner Dürrenmatt- Biographie (Diogenes Verlag 2020, S.148)

Sein Hang zum Grotesken und Extremem verstörte Leser, Zuschauer und Kritiker – aber Dürrenmatts Gespür für aktuelle, paradoxe gesellschaftspolitische Entwicklungen und existenzielle Bedrohungs-Szenarien, umgesetzt mit locker-provozierenden Mitteln, begeisterte sie auch, weil er keine abstrakten Thesen beweisen, sondern Menschen in ihrer armseligen Hilflosigkeit oder grenzenlosen Gier zeigen wollte: Ohne „Die Physiker“ oder dem „Besuch der alten Dame“ wären die heftigen, brisanten Diskussionen über Wiederaufrüstung und atomare Bedrohung, aber auch um eine angemessene Vergangenheitsbewältigung in Wirtschaftswunderzeiten kaum vorstellbar gewesen. Unübersehbar war auch schon in FDs ersten Erzählungen („Die Panne“), Krimis („Der Richter und sein Henker“), Dramen und Hörspielen, dass er seine Protagonisten nicht höhnisch vorführen und denunzieren wollte.
Was bleibt, jetzt, da er kaum noch aufgeführt, aber immer noch im Deutschkurs gelesen wird? Physiker, die in einer Irrenanstalt untertauchen, um nicht mit der Entwicklung von Atombomben konfrontiert zu werden; die im Stil einer antiken Rachegöttin auftretende alte Dame Claire Zachanassian, die mit einem Kopfgeld von einer Milliarde demonstrieren will, wie schnell nicht nur die Güllener Kleinbürger für ein hübsches Sümmchen ihre Moralvorstellungen über Bord werfen – das waren damals krasse Theater-Provokationen. Aber „Sein Haß, seine Brutalität, seine Grausamkeiten sind Antworten auf unsere Welt“, gab Reich-Ranicki 1966 zu bedenken. Keine Frage: Das düstere Dürrenmatt-Weltbild war voller Kontraste und Konflikte, die der Autor mit Scherz, Wut, Satire, Parodie und tragischen Komödien zum fesselnden Stoff verarbeiten wollte.
Welterfolg, Polemik, Frisch-Bashing

Der Biograph Ulrich Weber, Jahrgang 1961, ist Dürrenmatt-Nachlass-Kurator im Schweizerischen Literaturarchiv Bern und hat FD zwar nicht mehr kennengelernt, er geht aber über Peter Rüedis Biographie von 2011 hinaus, die nur die erste Hälfte von FDs Leben und Werk erfasste. Weber hat den gesamten FD-Nachlass samt den bisher unbekannten und unvollendeten „Stoffen“ gesichtet; er geht subtilen Verästelungen und Interessen von FD nach und nimmt biographische Irrungen/Wirrungen ins Visier. Vor allem aber: Weber will hier kein verklärendes Denkmal errichten, sondern erlaubt sich auch kritische Einschätzungen. So beschreibt er etwa, wie sich FD als Oberlehrer nach einer Max Frisch-Premiere gegenüber Kritikern aufspielt und ihnen erklärt, was Kollege Frisch im Stück „Andorra“ alles falsch konstruiert hatte. Da zeigte sich der gern ins Philosophische abdriftende Analytiker des homo sapiens plötzlich als kleinkarierter Profilneurotiker. Ebenso aberwitzig auch, wie FD bei einer Ehrung für Vaclav Havel mit dem Ehrengast kaum ein Wort wechselt, dafür in seiner Laudatio die Schweiz lieber als „Gefängnis“ diffamiert – und das nach dem gescheiterten Prager Frühling. Weber blickt auch genau hinter die Kulissen und beschreibt, wie der monomanische Dramatiker FD dazu neigte, als Regisseur eine Monopolstellung zu beanspruchen. Er sabotierte bei Aufführungen seiner eigenen Stücke die Konzepte anderer Regisseure und sorgte für Skandale. Da gab es dann Hausverbote, Proben- Abbrüche, ein sagenhaftes “Buh-Geschrei“ wie etwa im März 1973 nach Andrej Wajdas abgebrochener Züricher Inszenierung der „Mitwisser“, in dem übrigens die spurenlose Vernichtung von Leichen thematisiert wurde. Wajda hatte FD ein Hausverbot erteilt, doch der hatte drei Tage vor der Premiere das Kommando übernommen, woraufhin Wajda empört abgereist war: So hatte sich FD selbst den größten Misserfolg und Skandal beschert.
Mit großer Empathie kümmerte sich FD aber auch um darbende Künstlerkollegen und Underdogs wie Ludwig Hohl, den er jahrelang unterstützte. Vielleicht hatte sich FD an seine eigenen kümmerlichen ersten Jahre erinnert, als er in einer Art Start-Up-Aktion des „Schweizerischen Beobachters“ von Lesern ab 1952 über drei Jahre mit monatlich mindestens fünf Franken monatlich unterstützt wurde?
Und immer rotiert das Hamsterrad

FD als Multi-Tasker und Allround-Autor: Immer wieder beschäftigte er sich mit seiner Gangster-Bank-Oper „Frank der Fünfte“ – die eigentlich schon als grotesk-überhöhte Antizipation des gigantischen Wirecard-Skandals konstruiert war (!!!) – in der die Bank-Kunden systematisch ausgenommen und betrogen, eingesperrt und umgebracht werden. Im pazifistischen Stück „Romulus der Große“ zeigt er einen Imperator, der nicht an die Front will, auch nichts erobern will, sondern als Hühnerzüchter nur das gackernde Federvieh um sich genießt – eigentlich faszinierende Themen, die in den meisten Inszenierungen aber mit zu vielen parodistischen Pointen und Klamauk verhunzt wurden. Nach intensiven Fachgesprächen mit Physikern und Naturwissenschaftlern entwickelt FD ein starkes Interesse an Physik, Einsteins Relativitäts-Theorie und dem Schachspiel: Er plant sogar ein gemeinsames Stück mit Max Frisch, doch die phasenweise zu einer Freundschaft mutierende Rivalität hält nicht lange an. Die vielen Facetten aus FDs Schreibwerkstatt, die uns Webers Biographie präsentiert, sind ebenso faszinierend wie die Beschreibung von FDs Neubearbeitungen alter Stoffe und sein Interesse an Verfilmungen: FD war eben auch ein unermüdlicher Spezialist für das Recycling alter Stoffe: Da wurde eine Erzählung flink zum Hörspiel umgeschrieben oder das Hörspiel mutierte zum Drama. Weber geht auch detailliert auf FDs enormes Erkenntnisinteresse ein: Das veranlasste ihn aber auch, fast alles für verwertbar und medienwirksam zu halten. Wahrscheinlich wäre FD heute ein begeisterter Instagram-Follower oder Influencer. Ob er jedoch mit einem permanenten Input-Overload zurecht käme, wäre doch sehr fraglich. Dass der hyperaktive Künstler FD mit 48 seinen ersten Herzinfarkt hatte, kann jedenfalls nicht überraschen.
Häufig war FD zur Absage vereinbarter Projekte gezwungen, weil er „nebenher“ immer schon diverse andere Projekte vorbereitete. Außerdem malte er seine Sketche und Porträts, reiste zu herausragenden Premieren wie die von Peter Brook inszenierte „Alte Dame“ (als „The Visit“ aufgeführt und als Welterfolg monatelang ausverkauft) nach New York oder London, oder er gastierte als drittklassiger (weil unbeachteter) Statist in Moskau beim eher überflüssigen, von Propaganda und Parteibonzen gesteuerten Schriftstellerkongress.
Zu FDs Hamsterrad-Ambiente, das trotz aller Gesundheits-, Finanz-und Termin-Probleme munter rotierte, bemerkt Weber:
„Bevor sich Dürrenmatt den konzipierten Stoffen „Die Physiker“ und „Der Meteor“ oder dem Gangster-Stoff zuwenden konnte, musste er einen Filmstoff liefern – konkret war es „Justiz“. Dürrenmatt arbeitete daran ab März 1960 bis zum Jahresende. Doch bevor er am Filmstoff „Justiz“ arbeiten konnte, musste er „Frank der Fünfte“ für die geplanten Aufführungen in Deutschland überarbeiten; und bevor er „Frank der Fünfte“ überarbeiten konnte – was er im Januar 1960 tat – musste er die Rede für den Schiller-Jubiläumspreis (zum 200. Geburtstag des Dramatikers) zu Papier bringen, der ihm am 9. November 1959 in Mannheim verliehen wurde; und bevor er diese dramaturgische Grundsatzrede halten konnte, in der er sein kritisches Verhältnis zu Schiller, aber auch zu Brecht darlegte, musste er den „Besuch der alten Dame“ für seine eigene Inszenierung an die kleine Bühne des Atelier-Theaters in Bern anpassen – die Proben begannen Ende Oktober, die Premiere war auf den 25. November angesetzt… Zunächst aber musste Dürrenmatt ab Mitte September für etwa drei Wochen ins Kantonsspital Winterthur.“
Immer mehr – immer weiter – immer anders – immer Volllast

Weber nennt FDs unter extremer Volllast funktionierende Schreibwerkstatt „Das überladene Fuhrwerk“. Er fragt sich aber bereits nach FDs letztem erfolgreichen Stück „Der Meteor“, in dem der im Bett liegende, todkranke Literaturnobelpreisträger Schwitter einfach nicht sterben kann – obwohl er es gerne möchte – ob FDs kometenhafter Aufstieg damit auch schon beendet war. Denn FDs verbissene Versuche, aus früheren Stücken mit neuen, umgeschriebenen Versionen an seine Erfolgsserie anzuknüpfen, waren vergebens.
Für Forscher und Theater-Nerds besonders ergiebig sind Webers Einblicke in FDs hinterlassene „Stoffe“ – also all die Fragmente, Konzepte, die bisher kaum bekannt waren. Sie demonstrieren, wie radikal und kompromisslos FD seine apokalyptischen Visionen menschlicher Brutalität und Dummheit weiter entwickelte: „Mondfinsternis“ und „Winterkrieg in Tibet“ sind Auseinandersetzungen mit Untergangs-Szenarios, mit grauenhaften Exzessen im Dritten Weltkrieg: „Man tötet und fickt um die Wette, Blut, Spermien, Gedärme, Fruchtwasser, Gekröse, Embryos, Kotze, Gehirne, Augen, Mutterkuchen schießen in Strömen die riesigen Gletscher hinab, versickern in den abgrundtiefen Spalten.“
Kaum zu glauben, dass diese tristen Endzeit-Szenarien von demselben munteren „Plautus der Nachkriegsjahre“ (FAZ) stammt, der sich am liebsten auf grotesk-komisch übersteigerte Effekte kaprizierte, um allzu deprimierende Konstellationen abzufedern. Ist das Werk von FD also noch aktuell oder weiterhin nur für Deutschlehrer interessant?
Ulrich Webers großartige Biographie wird diese Diskussion über Dürrenmatts so extrem vielseitiges, faszinierendes und verstörendes Werk jedenfalls stimulieren und bereichern. Als „Buch des Jahres“ sollte man den Band jedenfalls schon mal vormerken.
Peter Münder
Ulrich Weber: Friedrich Dürrenmatt – Eine Biographie. Diogenes Verlag, Zürich 2020. 713 Seiten, 28 Euro.