Geschrieben am 1. Februar 2021 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2021

Robert Rescue: Kurzgeschichte

Besuch in der Heimat

War klar, dass mein Bruder einen Eklat auslösen würde, als er in der Eingangshalle des Flughafens Düsseldorf ein Schaf in die Luft sprengte. Er hätte das besser draußen auf dem Parkplatz machen sollen oder, besser noch, nach der einstündigen Fahrt nach Hause. Dann wäre das niemandem aufgefallen bzw. da hätten die Leute gewusst, willkommener Besuch ist eingetroffen. Aber natürlich erweckte es den Argwohn der Sicherheitskräfte, als er ein Schaf ins Terminal führte, diesem dann eine Stange Dynamit rektal einführte, ein Feuerzeug zündete und sich dann schnellen Schrittes wegbewegte. Ja, und dann flogen die Gedärme durch die Gegend. Ein Willkommensritual für seinen geliebten Bruder aus der großen Stadt, hatte mein Bruder den alarmierten Polizisten erklärt. Daran sei doch nichts Schlimmes. Die Ordnungshüter sahen das anders und vor allem der Besitzer des Parfümerie-Shops, vor dem er das Schaf „gehorkt“ hatte. „Horken“, so wird das Sprengen in meiner Heimat genannt. Na ja, jetzt muss er ein Bußgeld zahlen und die Reinigung des Terminals. Das mit der Reinigung wollte er zunächst nicht einsehen, denn die Reste „gehorkter“ Schafe werden dort gelassen, wo sie gesprengt wurden und dienen als Aas. 

Als wir zuhause ankamen, hat er gleich noch mal ein Schaf „gehorkt“. Da kam die ganze Nachbarschaft zusammen und wir haben uns begrüßt und ein paar Flaschen Schnaps geleert.  

Am nächsten Tag besuchten wir das „Friedspringen“. In meiner Heimatstadt steht die Ruine der Stammburg eines bedeutenden europäischen Herrscherhauses. Burgfried und Pallas wurden von diesem vor vielen Jahren renoviert, aber von dem Rest sind nur noch zerfallene Mauern übrig. Seit Jahrzehnten ist es Tradition, an einem Tag im Jahr das „Friedspringen“ zu veranstalten. Bestimmte Personen, die im Laufe eines Jahres unangenehm aufgefallen waren, wie beispielsweise durch Arbeitslosigkeit, Spionagetätigkeit, Poetentum, linke politische Ansichten, intellektuelles Verhalten sowie Angehörige der Berufsgruppen Schafzüchter und Adlige wurden eingekerkert und bekamen am Tag des „Friedspringens“ die Gelegenheit, ihre Freiheit wiederzuerlangen und in den Kreis der Gemeinschaft aufgenommen zu werden, wenn sie den Sprung überlebten. Von den Zinnen des Bergfriedes bis zum Asphalt des Parkplatzes lagen 23 Meter und es gab auf dem Weg nach unten nichts, an dem man sich festhalten konnte. Hin und wieder ist es schon vorgekommen, dass jemand überlebt hat, etwa durch günstige Winde, eine spezielle Abrolltechnik oder das Einwirken göttlicher Kräfte, aber glückliche Fügung hin oder her, der Missetäter erlitt dennoch so gravierende Verletzungen, dass ihm das weitere Leben keinen Spaß mehr machte. Immerhin waren diejenigen von ihren Sünden reingewaschen und mussten selbst bei Wiederholung ihrer Verbrechen nicht befürchten, erneut zum Sprung antreten zu müssen, auch wenn viele von ihnen regelrecht darum bettelten. 

Später fuhr mein Bruder noch am Bahnhof vorbei. Der war saniert worden, aber an der runden Stelle davor mit dem Kopfsteinpflaster und der Eiche in der Mitte war nichts gemacht worden. Noch immer befand sich um die Eiche eine kreisförmige Holzbank, auf der wir Kinder oft gesessen hatten, und Ausschau hielten nach Agenten der Sowjetunion oder arbeitsscheues Gesindel. Die Stelle galt als Tabu für Straßenbauarbeiten, weil sich darunter ein Massengrab russischer Kriegsgefangener befand. Die Bürger befürchteten die Rache von Untoten, die man durch Bauarbeiten befreien würde und die dann die Gehirne der Leute auffraßen. Es handelte sich um keine Gedenkstätte, das Wissen um die Besonderheit des Ortes war allein den Ansässigen vorbehalten.

Die Kriegsgefangenen waren Teil des Verladebahnhofes gewesen, den die Wehrmacht dort zum Panzertransport betrieben hatte. Die Funktion des Bahnhofes wurde nach dem Krieg von den Amerikanern übernommen. Aber nicht nur Panzer wurden dort verladen, sondern angeblich auch Atomraketen. Es hielt sich das Gerücht, dass meine Heimat in Moskau auf einer Top Ten-Liste der zuerst zu vernichtenden Orte West-Deutschlands im Falle eines 3. Weltkrieges stand. Als Kinder auf der Holzbank an der Eiche beobachteten wir hin und wieder auffällige Personen im Trenchcoat, die in der Nähe des Bahnhofs standen und eine Tasche in Krokodilleder-Optik so merkwürdig hielten, als würden sie heimlich etwas fotografieren. Wir liefen nach Hause und berichteten den Eltern, dass ein Russe am Bahnhof spioniere. Die Väter rotteten sich zusammen und wenn sie den Spion erwischen konnten, wurde dieser nicht etwa den Amerikanern oder der Polizei übergeben, sondern in einen Keller gesperrt, damit er sich beim nächsten „Friedspringen“ beweisen konnte.

Irgendwann haben die Stadtoberen diese braune Unterrichtungstafel an der Autobahn, die eigentlich auf den landschaftlichen Charakter meiner Heimat aufmerksam machen sollte mit einem Hinweis auf die Besonderheit als primäres Angriffsziel im Falle eines 3. Weltkrieges überklebt, um Touristen anzulocken. Das funktionierte solange, bis einer vom Verband der deutschen Schafzüchter hier Urlaub machen wollte und auf das „horken“ aufmerksam wurde. In der Verbandszeitschrift schrieb er dann was von „Tierquälerei“, was wiederum andere Presse anlockte. 

Bald meldeten sich auch Vertreter des bedeutenden europäischen Herrscherhauses und forderten, das „Friedspringen“ zu beenden. Die Einheimischen machten daraufhin ein „Thing“ und beschlossen, Schafzüchter und Adlige als persona non grata zu ächten und sie bei Habhaftwerdung dem „Friedspringen“ zuzuführen.

Am Schluss haben wir noch einen Abstecher auf die Lay gemacht. Das ist ein massiver Felsen über dem Fluss, auf dem der Überlieferung nach früher Menschenopfer dargebracht wurden. Außerdem soll er die Spitze von Atlantis sein, ein magischer Kraftort der Germanen und manche sind überzeugt, das irgendwo im Felsen Excalibur steckt. Ufos wurden dort selbstverständlich auch schon häufig gesichtet. Vor der Lay erstrecken sich weite Felder und dort soll am Kriegsende ein SS-Bataillon gelagert haben, was eine Formation amerikanischer Bomber dazu brachte, ihre Bombenlast auf die im Tal gelegene Stadt abzuwerfen, was viele zivile Opfer kostete. Bis heute fragen wir uns, warum die Amis nicht das SS-Bataillon bombardiert haben, da hätte es nämlich die richtigen getroffen, auch wegen der russischen Kriegsgefangenen. Einige behaupten, das Bataillon habe auf der Lay nur eine Pause eingelegt, weil der Major einen Strauß Blumen für seine Frau pflücken wollte.

Mein Bruder hat mich dann zum Flughafen zurückgefahren und auf der Zufahrt gehalten, um ein Schaf zu „horken“. Wir haben uns zum Abschied umarmt und ich hatte eine Träne im Auge. Es war wieder ein sehr gelungener Besuch in der Heimat gewesen und ich bin jetzt schon in freudiger Erwartung auf das nächste „Friedspringen“.

Robert Rescue bei CrimeMagZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.