Zwischen Heimat, Exil und Erinnerung
Polnische Erzählungen der Gegenwart.
Seien wir doch mal ehrlich – wer aus der Generation X bis Golf kennt schon wahrhaftig einen polnischen Autoren, geschweige denn, dass er seinen Namen richtig aussprechen kann? Für all diejenigen, für die der diesjährige Messeschwerpunkt weitestgehend das Betreten von literarischem Neuland bedeutet, bietet die dtv-Anthologie „Landschaften und Luftinseln“ facettenreiche Einblicke in die polnische Gegenwartsliteratur.
Zwanzig Autoren – von etablierten wie Pawel Huelle und Andrzej Stasiuk bis zu jüngeren Newcomern – präsentieren hier ihre oftmals zum ersten Mal ins deutsche übersetzten Kurzgeschichten. Vorangestellt sind literarische Selbstporträts der Autoren, die schon auf die zentralen und durchaus generationenübergreifenden Themen wie Heimat(-Liebe), Exil und Erinnerung verweisen: „Die Würze liegt in der Vergangenheit, die ich in mir trage. Es gibt keine Zeit ohne Erinnerung“ schickt etwa Pawel Huelle seiner Erzählung „Der Mantel“ voran, in der er anhand eines Ensembles von skurrilen Figuren plastische Szenen aus dem Danzig der Vor- und Nachkriegszeit auferstehen läßt. Eine herrlich absurd-surreale Geschichte über eine in einer gewaltigen Gasexplosion mündende „Heimkehr“ in das postkommunistische Polen erzählt der 1956 geborene Janusz Rudnicki: „Ich wollte nach Hause zurück und konnte nicht. Ich hatte die Tür hinter mir zugeschlagen.“ Roman Gren wiederum berichtet auf eine rührende Art von der ungeheuren Faszination der ersten Orangen, die in den grauen Fünfzigern mit ihren nach Erbsensuppe riechenden Hausfluren auf geheimen Wegen „zum ersten Mal bei uns ihren Einzug hielten“ und in ihrer Jaffakiste „wie kleine Sonnen auf einem Polster aus Holzwolle schlummerten“.
Von einigen avanciert-provokativen Ansätzen bei jüngeren Autoren wie Krysztof Jaworski, Wojciech Kuczok oder Zyta Rudzka abgesehen, vermitteln die in dieser Anthologie versammelten Geschichten das Bild einer noch weithin in den Traditionen und klassischen Themen verwurzelten polnischen Literaturlandschaft, in der das Fernsehen, Internet und Globalisierungsprozesse noch keinen Einzug gehalten hat. Hier scheint Literatur noch im Wesentlichen, wie Aleksander Jurewicz meint, „das Schaffen einer anderen Version dieser Welt: einer lyrischen, melancholischen, einer weniger oder auf andere Art schmerzlichen Welt“.
Karsten Herrmann
Landschaften und Luftinseln. Polnische Erzählungen der Gegenwart, 303 S., 19,50 DM