Geschrieben am 27. März 2008 von für Bücher, Litmag

Mario Calabresi: Der blaue Cinquecento

Die Stimmen der Opfer

Mario Calabresi erinnert an die Ermordung seines Vaters.

Es koennte sich um ein Werbemotiv der Firma FIAT für den legendären Cinquecento handeln. Ein einnehmend blaues Modell dieses Wagentyps vor weissem Hitergrund. Ein in ähnlichem strahlenden Blau gehaltenes Lesebändchen. Ab in den Süden. Dolce vita…Der Inhalt des Buches handelt aber mehr vom ‚Dolce amara’, vom bitteren Leben der Opfer in den bleiernen Jahren des italienischen Terrorismus. Während in Deutschland wie in Italien unendlich viele Erinnerungen aus den Reihen der Täter terroristischen Gewalttaten in den siebziger, achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts existieren, bleiben die Angehörigen der Opfer fast immer stumm.

In einigen Fällen ist der Schmerz über den Verlust eines Familienmitglieds bis heute noch so groß, dass die Betroffenen nicht an die Tat erinnert werden wollen. Mario Calabresi, Sohn eines Attentatsopfers und Amerikakorrespondent der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“ durchbricht mit seiner ebenso detaillierten wie feinfühligen Recherche über die Ermordung seines Vaters dieses Schweigen. Zum Hintergrund: Am 17.Mai 1972 wurde Kommissar Luigi Calabresi beim Verlassen seiner mailänder Wohnung mit zwei Pistolenschüssen mit großer Kälte und Präzision hingerichtet. Die Täter aus dem Umkreis der sogenannten ‚Roten Brigaden’ ( der deutschen RAF vergleichbar ) hatten Calabresi ermordet, weil sie ihn als verantwortlich für den Tod von Giuseppe Pinelli, einem linken Anarchisten ansahen. Pinelli war während eines Verhörs zur Aufklärung eines anderen großen Attentats unter mysteriösen Umständen aus dem Fenster des Büros von Kommissar Calabresi gestürzt. In dem extrem aufgeheizten politischen Klima jener Zeit wurde Kommissar Calabresi von Seiten der extremen Linken sofort als persönlich verantwortlich für diesen Tod denunziert. Ganz besonders heftig wurde Calabresi dabei von der Tageszeitung „Lotta Continua“ angegriffen. Massgeblicher Kommentator der Zeitung war damals Adriano Sofri, der Jahre später von einem ehemaligen Mitglied von ‚Lotta Continua’ als der entscheidende Drahtzieher bei der Vorbereitung der Ermordung von Calabresi bezeichnet wurde. Aufgrund der Aussagen dieses Kronzeugen wurde Sofri dann zusammen mit zwei anderen Angeklagten zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die immer wieder durch Revisionsverhandlungen neu infrage gestellt wurde. Die rechsstaatliche Korrektheit dieses Verfahrens wurde auch von Beobachtern infrage gestellt, die über jede Sympathie für die Angeklagten erhaben sind.

Mario Calabresi hält sich mit einem Urteil über die direkte persönliche Schuld der drei Angeklagten zurück, auch wenn ihn die öffentliche Aufmerksamkeit, die vielen tatsächlichen oder nur vermeintlichen ‚Rotbrigadisten’ sehr schmerzt. Er versucht vielmehr mit seiner detaillierten journalistischen Recherche die aggressive politische Stimmung im zeitlichen Umfeld der Tat nachzuzeichnen, um sie auch für nachgeborene Generationen verständlich zu machen. Aber er rechnet nicht ab mit den Tätern oder schwört Rache, sondern er vertraut einer möglichst wahrheitsgemäßen Aufklärung der Taten – soweit dieses einem Opferkind überhaupt möglich ist. Wie der Autor hier versucht, die Umstände der Ermordung, vor allem aber die Gefühle in der Familie des Opfers nach der Tat in Worte zu fassen, ergreift den Leser von der ersten Seite an.

Zu den ‚Jahren des Bleis’, der Zeit des sich linksextrem etikettierenden Terrorismus gibt es in Italien wie auch in Deutschland inzwischen einen jedes Jahr höher werdenden Berg an Publikationen. Und trotzdem ist die Ratlosigkeit über die Gründe für diese Gewaltwelle immer noch mehr gewachsen. Was hat die an den tödlichen Attentaten beteiligten jungen Menschen dazu gebracht, sich anzumassen, andere Menschen umzubringen, die sie als Hindernis auf ihrem Weg „gesellschaftlicher Befreiung“ und ‚Weltverbesserung’ ansahen? Warum haben sie auch vor der Zerstörung ganzer Familien nicht zurückgeschreckt, nur um ihren vollkommen abstrusen und realitätsblinden Kampf gegen das „kapitalistische Schweinesystem“ zu führen? Weshalb wird in der politischen Öffentlichkeit Italiens (und auch Deutschlands ) den terroristischen Tätern ungleich mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den Angehörigen der Opfer, die mit ihrem Schmerz alleine gelassen werden?

Mit Hochachtung spricht Mario Calabresi von Politikern wie Carlo Azeglio Ciampi und Giorgio Napolitano, dem ehemaligen und heutigen italienischen Staatspräsident, die endlich auch den Opfern der Attentate in den siebziger Jahren ihren großen Respekt zollen. Eine Politik, die ihre Lehren aus den Jahren des Terrorismus gezogen hat, kann auf die von ihnen repräsentierte Tradition ziviler Werte und persönlichen Anstands nicht verzichten. Damit weist das Erinnerungsbuch von Mario Calabresi auch nach vorne und läßt jede Form der Abrechnung hinter sich.

Carl Wilhelm Macke

Mario Calabresi: Der blaue Cinquecento. Geschichte meiner Familie im Schatten des Terrorismus. Aus dem Italienischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Michaela Wunderle. SchirmerGraf, Verlag, Muenchen, 2008, Gebunden, 223 S., 17,80 Euro