Citoyen oder Bourgeois?
Albrecht von Lucke fragt nach den Folgen von ’68
Nicht schon wieder ‚68…Wir befinden uns zwar erst in den Anfangsmonaten des 40. Gedenkjahres, aber es reicht jetzt schon mit den einschlägigen Kommentaren, Erinnerungen, Polemiken, Abrechnungen und Nostalgien. Was diese 68er – wer immer damit auch gemeint ist – alles gewesen sein sollen: pubertierende Schlaffis, Flower Power People, Pazifisten, Bellizisten, Werte- und Familienzerstörer, Kommunisten, Terroristen, sogar kostümierte Nazis usw. usw. Wer will, kann diese Liste jederzeit um weitere Kohorten, K-Gruppen und Etiketten vervollständigen. Für das Feuilleton und manche Gemeinderatssitzung mag das alles eine ganz unterhaltsame Never-Ending-Story sein, aber wem oder was nützt’s heute? Zur Aufklärung über Zeitphänomene und politische Probleme vierzig Jahre später und am Beginn des 21. Jahrhunderts trägt dieses muntere 68er-Puzzle herzlich wenig bei. To whom it may be concern – aber es gibt heute weiß Gott andere Konflikte.
Doch dann nimmt man, verführt vielleicht nur durch die lesefreundliche schmale Präsentation eine Neuerscheinung über ‚68 zur Hand, beginnt zu lesen und wird wieder neugierig auf ein Thema, das man eigentlich schon abgehakt hatte. In der neuen, sehr lobenswerten Politik-Reihe des mit allen 68er Wassern getauften Wagenbach-Verlags ist eine kleiner, aber sehr lesenswerter Essay von Albrecht von Lucke zu den Deutungen des ‚Epochenjahres 1968’ erschienen. Der Autor, so entnimmt man den Verlagsinformationen, ist 1967 geboren, also naturgemäß, dem zur Debatte stehenden Jahr biographisch allenfalls durch Windelwechseln zwischen zwei Demos verbunden. Nostalgien und nachträgliches Konvertitentum sind von Lucke persönlich zunächst einmal vollkommen fremd. Er studiert zentrale, in den sechziger Jahren veröffentlichte Texte, resümiert einige Ereignisse, erinnert an einige Protagonisten jener Jahre und macht sich dann einen eigenen Reim darauf. Befreiend, wie er nächtelange Grundsatzdiskussionen in jenen Jahren – an denen auch der Rezensent teilgenommen hat – locker und vollkommen zu Recht als ‚Arbeiterfolkore“ karikiert. Interessanter sind für von Lucke, der heute in der Redaktion der Monatszeitschrift „Blätter für deutscheund internationale Politik’ mitarbeitet, die nachträglichen ‚Deutungskämpfe’ im Zusammenhang mit dem Jahr ‚68.
Sack zu und hart draufschlagen
In drei Kapiteln versucht er den Zeitraum seit den späten sechziger Jahren einzuteilen. Die Jahre von 1967 ( dem Jahr der Ermordung von Benno Ohnesorg ) bis 1977 ( „Deutscher Herbst“ ) tituliert von Lucke als „das rote Jahrzehnt“. Sehr wichtig für diese „Inkubationszeit“ der 68er ist für ihn die in diesem Zeitraum hoch emotionalisierte Debatte um den ‚Faschismus-Vorwurf’ von Jürgen Habermas und anderen gegen bestimmte Aktionsformen der ‚anti-autoritären Studenten’. Die von Habermas entfachte Kontroverse um die in der Studentenbewegung latent enthaltenen faschistischen Gehalte, war damals richtig und notwendig. Heute bewegt das Remake dieser Diskussion um das spektakulär aufgeföhnte Buch des damaligen Mao-Gläubigen Götz Aly vielleicht noch zwei drei Feuilleton-Redakteure. In der zweiten Phase von 1978 – 2005 erfolgt der „Marsch durch die Institutionen, der kulminiert mit der Regierungszeit von Schröder, Fischer, Trittin u.a. aus dem „Rot-Grünen-Bündnis’. In dieser Zeit wuchs auch immer mehr die alt- und neu konservative Kritik an einigen Fundamentalideen der 68er. Wo immer man einen Niedergang bürgerlicher und vaterländischer Werte vermutete, waren die ‚68er die Hauptschuldigen. In dem umfangreichsten und auch spannendsten dritten Kapitel zu der aktuellen Zeit ab etwa Anfang 2007 setzt sich von Lucke mit Autoren auseinander, die sich ganz bewußt als eine neue konservative bürgerliche Elite im Kampf mit „Prolos, Masse und Unterschicht“ definieren. Hier trifft von Lucke auch genau den Kern der aktuellen „Deutungskämpfe“ um die Folgen des ‚Aufbruchs in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts für die schärfer werdenden sozialen Konflikte in der deutschen Gesellschaft in großkoalitionären Zeiten. Es etabliert sich heute immer mehr ein elitärer und aggressiver Reichtum, der von Bourgeoisie viel, von Bürgerlicheit aber wenig wissen will. Die intellektuellen Vortänzer dieser neuen konservativen Elite versuchen in immer neuen Varianten ‚68 auf den Terrorismus, den Kommunismus, neuerdings sogar auf einen kostümierten Nationalsozialismus zu reduzieren. Sack zu und hart draufschlagen. Albrecht von Lucke aber setzt dagegen eine Interpretationvon ,68, in dem – mit vielen Rückschlägen – die demokratischen und auch internationalistischen Ressourcen geschaffen wurden, von der die Stabilität der heutigen Bundesrepublik zehrt. Hat nicht die überall in der Welt hoch geschätzte Arbeit des Goethe-Instituts ihr intellektuelles Fundament auch von Ideen der ‚68er Studentenbewegung erhalten? Ist es ein Zufall, dass man in vielen global agierenden NGO’s immer wieder auf Mitarbeiter trifft, in deren internationalem Engagement oft auch das Echo von ‚68 spürbar ist? Hannah Arendt war alles andere als eine kritiklose Schwärmerin für die Aktionen der 68er Studentenbewegung und ihre scharfe Absage an den kommunistischen Totalitarismus war bei vielen linken Intellektuellen der sechziger Jahre nicht gut gelitten. Dennoch hat sie diese Zeit als eine „Wiedergeburt des ‚citoyens’ und der republikanischen ‚vita activa’ gesehen“. In dieser Interpretation bündeln sich auch die verschiedenen argumentativen Fäden dieser kleinen Annäherung an ein Jahr, mit dem die Einen sich die Revolution erhofften und das für die Anderen der Anfang vom Ende des Abendlandes war. Wie man ohne jede Heroisierung, Nostalgie oder Verdammung ganz nüchtern auf dieses ‚epochale Jahr’ blicken kann, zeigt hier vorbildlich Albrecht von Lucke.
Carl Wilhelm Macke
Albrecht von Lucke: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht. Wagenbach-Verlag, Berlin, 2008, 91 S.