Komm ins Offene, Freund…
Gegenwärtig ist das „68er-Bashing“ beliebt und verspricht große Auflagen. Der schmale Band „Brief an D.“ von Andrè Gorz ermutigt aber dazu, auch eine ganz andere Sichtweise auf die ‚sechziger Jahre’ des vergangenen Jahrhunderts zu werfen. Von Carl Wilhelm Macke
Soll man diesen schmalen Band, der ohnehin schon als ‚Geheimtipp’ von Mund zu Mund, von Mailbox zu Mailbox gereicht wird, noch einmal besprechen? Soll man die Lektüre eines so intimen und bewegenden Dokuments des Abschieds anderen ans Herz liegen, wo sie es doch ohnehin schon gelesen oder wenigstens zur Kenntnis genommen haben? Warum zum Lesen eines Briefes ermutigen, der bereits in den großen Feuilletons emphatisch zum Lesen empfohlen wurde? Man hört von dem kleinen und sehr engagierten Schweizer „Rotpunktverlag“, daß keines seiner Bücher in den vergangenen Jahren in so kurzer Zeit so häufig verkauft worden ist wie der „Brief an D.“ von Andrè Gorz. Nein, einer nochmaligen Hervorhebung bedarf dieser kleine Band wirklich nicht. Aber man kann über die Veröffentlichung und ihre erstaunlich große Resonanz auch einmal in einem anderen, aktuellen Kontext nachdenken.
Mit welchen werbemäßigen Knalleffekten und mit welcher arroganten Anmaßung werden in diesen Wochen Bücher wie die einer Fernsehsoubrette wie Frau Herrmann oder eines Schmuddelblatt-Chefredakteurs wie Kai Diekmann auf den Markt geschleudert, in denen die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zur Urknall-Epoche von Mord, Totschlag, Familien- und Werteverfall in einer bis dahin so gesitteten Welt erklärt wird. Und in welcher diskreten Stille, zurückhaltenden Unaufgeregtheit, einschließlich der damit korrespondierenden bescheidenen Auflage sind in den vergangenen Jahren Dokumente erschienen, die ein ganz anderes Bild der heute so in Grund und Boden gestampften Zeit vor und unmittelbar nach dem Teufelsjahr „68“ zeichnen. Wer der heute durch die neokonservativen Salons entlang der Boulevards des Zeitgeistes über den Untergang des Abendlandes seit den Tagen der Schlacht am Tegeler Weg in den sechziger Jahren schwadronierenden Prediger der Wende hat denn zum Beispiel die von Peter Kammerer herausgegebene Autobiographie von Willi Hoss gelesen, die ohne die aufwühlenden sechziger Jahre überhaupt nicht denkbar gewesen ist („Komm ins Offene, Freund“, Münster, 2004)? Hat man diese Erinnerungen eines ehemaligen Kommunisten, Betriebsrates aus den Zeiten der ‚alten Arbeiterklasse’, Mitbegründer der GRÜNEN und immer libertären Demokraten Hoss einschließlich des abschließenden Gesprächs von Heidemarie Rohweder (seiner Frau) und seiner Tochter Nina (heute eine berühmte Schauspielerin) gelesen, ist man gegen besserwisserische Pamphlete über den Kulturverfall der berüchtigten Achtundsechziger einigermaßen immun. „Es war phantastisch, diese Zeit so zu erleben. Einerseits was im Osten ablief, Prag, mit Dubcek und seinen Leuten, deren Mut ich bewunderte… Dann die 68er Bewegung. Das war ein Aufbruch, der gar nicht hoch genug einzuschätzen ist“ (Willi Hoss).
Oder man lese alle Bücher des englischen Schriftstellers, Journalisten und Kunstkritikers John Berger (erschienen bei Hanser in Muenchen). Wie Hoss, aber natürlich vor einem ganz anderen biographischen Hintergrund, ist John Berger von den ‚Zeiten des Aufbruchs, der Provokation und des Experiments’ in den sechziger Jahren entscheidend geprägt worden. Zu seinen Lehrern gehörten an erster Stelle die beiden unorthodoxen marxistischen Kunstkritiker Ernst Fischer und Max Raphael. In seinem vielleicht am stärksten autobiographischen Buch „Hier, wo wir uns begegnen“ (Muenchen, 2005) erhält man als Jüngerer eine Ahnung davon, was die „Jahre, die ihr kennt“ (Peter Rühmkorff) auch an Phantasie, Kreativität, Neugierde und Solidarität zum Blühen gebracht haben. „Die Leidenschaft ist kurz. Ob sie nur wenige Stunden oder ein ganzes Leben währt, sie ist kurz, denn sie existiert nur im Widerstreit mit der Dauer. Sie fordert die Zeit zu einem Duell auf Leben und Tod. Und Tanzen handelt davon“ (John Berger). Und der ‚Brief an D.“ von Andrè Gorz, der hier als ein letztes Beispiel (aber es gibt unendlich viele andere Beispiele) für den experimentellen, weltentdeckenden Aufbruch der sechziger Jahre angeführt werden soll, ist, trotz großer Melancholie, auch voll mit Evokationen an jene Zeit, die heute mit einem früh gealterten Zynismus als ‚verlorene Jahre’ in die Schmutzecke der europäischen Jetztzeit abgeschoben werden. Wie (vielleicht) naiv, aber auch prophetisch war zum Beispiel jene „Weltbürgerbewegung“, die „sich nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ziel setzte, die Nationalstaaten abzuschaffen und eine Weltförderation zu begründen, eine Weltverfassung zu schaffen, ein Weltparlament und eine Weltregierung einzusetzen.“ Die Erinnerung an die gemeinsam mit seiner Frau verbrachte Zeit für diese ‚Weltbürgerbewegung“ gehört zu den schönsten Stellen des Abschiedsbriefes. An einer Stelle seines Briefes schreibt Gorz, dessen heute vergessener Entwurf „Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus“ (dt. 1967) zu einem der Klassiker der sechziger Jahre gehört hat, sehr selbstkritisch, daß er sich „wohl fühlt in der Ästhetik des Scheiterns und der Vernichtung, nicht in der des Erfolgs und der Bejahung“. Trotz aller bewegenden Trauer, die den Abschiedsbrief von Andrè Gorz an seine Frau Dorinne wissend um das Ende dieser Liebe prägt, handelt es sich auch um ein Dokument des Erfolgs und der Bejahung. So wie es die Autobiographie von Willi Hoss oder alle Schriften von John Berger auch sind. „Komm ins Offene, Freund“ – und vergiß die stickige, miefige, ermüdende Luft der Restauration, die man dir heute wieder als eine zeitgemäße und ‚verantwortliche’ Antwort auf die Jahre des gesellschaftlichen und zivilisatorischen Niedergangs anpreisen will.
Carl Wilhelm Macke