Geschrieben am 4. April 2007 von für Bücher, Litmag

Amartya Sen: Die Identitätsfalle

Zwei, drei viele Identitäten

Für Amartya Sen findet der Krieg der Kulturen nicht statt.

Unlängst lief im Fernsehen (arte) zu später Stunde ein bemerkenswerter Dokumentarfilm. Denkbar kurz war der Titel des Filmes, mit dem aber auch schon direkt das Thema des Filmes angeschlagen wurde: „White Terror“. In einer schaurigen Szenenfolge führte der Regisseur Daniel Schweizer die Zuschauer da in Welten, in denen es die bunte Lebendigkeit der Welt nicht gibt und auch nicht geben soll. Man lernte Rassisten kennen, die sich nicht tarnten und leugneten, sondern zu ihrer Arroganz auch offen bekannten. Antisemiten präsentierten sich da nicht als „Holocaust-Leugner’, sondern als bekennende Freunde des Genozids. „White Power“ als Formel zum Schutz der Welt vor „Degenerierung der weißen Rasse“. „Ethnische Vertreibung“ oder „Ausländerfreie Zonen“ gehören bereits seit einigen Jahren zu den Neu-Eintragungen im „Wörterbuch des Unmenschen“ (Süskind) unserer Tage . Und nicht erst seit dem 11. September 2001 spricht man in besseren westlichen Kreisen vom ‚Clash of Civilisations“, der ein friedliches Zusammenleben verschiedener „Zivilisationen“ nicht zuläßt.

Die ‚Globalisierung’ , wie unscharf dieser Begriff auch sein mag und wie wenig genau man sie auch zeitlich definieren kann, hat unsere herkömmlichen Weltbilder und scheinbar festgefügten „Identitäten“ jedenfalls kräftig durcheinandergeschüttelt. Niemand bleibt heute mehr unberührt von den vielfältigen ökonomischen, sozialen und kulturellen Folgen dieser ‚Globalisierung’. Und wer glaubt, sich gegen diese Infragestellung oder auch Erschütterung unserer traditionellen Alltagsgewohnheiten und „Weltanschauungen’ durch trotziges Beharren wehren zu können, gerät schnell in die fragwürdige Nachbarschaft von Fundamentalisten oder Sektierer – Rassisten und Nationalisten nicht ausgeschlossen.

Dass es diese Verunsicherung unserer ‚Identitäten’ gibt, leugnet auch der in Indien geborene, heute in den Vereinigten Staaten und in England lebende Autor Amartya Sen nicht. Allerdings plädiert der 1998 als Nobelpreisträger für Ökonomie ausgezeichnete Autor für einen sehr vorsichtigen und wohldurchdachten Umgang mit dem Begriff der ‚Identität’. Das Beharren auf nur einer einzigen Identität, so sein zentrales Argument, führt letztlich nicht zu einem Austausch der Kulturen, sondern zu einem Zusammenstoß von Fundamentalismen oder zu der von Sen heftig kritisierten These eines ‚Zusammenstosses der Zivilisationen“. Damit würde unterstellt, daß es so etwas wie „reine“ oder „geschlossene“ Zivilisationen gibt, die gegeneinander ihre Existenz verteidigen. „Die Schwierigkeiten mit der These vom Kampf der Kulturen beginnen lange, bevor wir zum Problem des unausweichlichen Kampfes kommen – sie beginnen mit der Annahme, daß nur eine einzige Klassifikation zählt…Diese Reduktion geht leider in der Regel einher mit einer recht nebulösen Wahrnehmung der Weltgeschichte, bei der erstens das Ausmaß der Verschiedenheit ‚innerhalb’ dieser Kulturen und zweitens die Reich- und Tragweite der geistigen und materiellen Interaktionen übersehen wird, die nicht an den regionalen Grenzen zwischen den sogenannten Kulturen enden.“.

Dagegen setzt Sen sein Konzept der ‚pluralen Identitäten’, das es nicht erlaubt, sich selbst und den Anderen ( den ‚Gegner’ ) auf eine einzige Identität zu reduzieren. „Wir müssen deutlich erkennen, daß wir viele verschiedene Zugehörigkeiten haben und auf sehr viele unterschiedliche Weisen miteinander umgehen können, gleichgültig, was die Aufwiegler und ihre aufgeregten Gegner uns sagen.“ Der Autor läßt die Leser teilhaben an der Entwicklung seiner Position, der ein sehr fundiertes Wissen über die wichtigsten großen Religionen und kulturellen Traditionen auf allen Kontinenten zu Grunde liegt. Dass dieses Buch auch viele Fragen an ein Konzept der ‚vielen Identitäten’ provoziert, ist keine Kritik, sondern ein Lob. Wir hier nicht unterstellt, daß wir heute noch von verschiedenen gewachsenen Identitäten ausgehen können, die man dann in Alltagskonflikten souverän ausbalancieren kann? Für einen in Indien geborenen und in vielen Ländern der Erde beheimateten Universitätsprofessor mag das reibungslos zutreffen, aber gilt dieses Ausbalancieren der Identitäten auch die entwurzelten jungen Emigranten in den Betonsiedlungen der Mega-Cities in Afrika oder Asien?
Trotz dieser Nachfragen ist dem klugen Plädoyer von Amartya Sen für eine ‚zivile Globalisierung’ und ein Überdenken unserer eigenen Identitäten eine große Leserschaft zu wünschen. Damit immer mehr Menschen auch die von Sen zitierte Hoffnung eines englischen Schriftstellers teilen: „ Wenn ich vor der Wahl stünde, entweder mein Land oder meinen Freund zu verraten, hoffe ich, daß ich den Mut hätte, mein Land zu verraten.“

Carl Wilhelm Macke

Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. Aus dem Englischen von Friedrich Giese. C.H. Beck Verlag, Muenchen, 2007, 208 S.