Geschrieben am 19. Januar 2011 von für Bücher, Litmag

Mario Luzi: Auf unsichtbarem Grunde

Der verborgene Teil der Epoche

– Mario Luzi war zu seinen Lebzeiten  in Italien sehr populär. Von vielen wurde er sogar wie ein Vater, später dann wie ein Großvater geliebt. Liest man jedoch seine Gedichte, fällt es schwer, diese ihm entgegengebrachte große Verehrung nachzuvollziehen. Von Carl Wilhelm Macke.

Luzis Gedichte setzen an den Leser höchste Ansprüche an Konzentration, an Wissen um den geistesgeschichtlichen Horizont, in dem sie angesiedelt sind, an eine Offenheit auch gegenüber dem in ihnen angeschlagenen spirituellen Ton. Sie eignen sich nicht für Postkartengrüße oder für die poetische Abrundung von Geburtstagsreden. An leichtverständliche Popularität machte Luzi keinerlei Konzessionen. Er war ein Dichter, der jahrzehntelang an seinem Werk schrieb und den man in Ruhe schreiben ließ. Aber als er 2005 hochbetagt in Florenz starb, würdigten ihn die großen Tageszeitungen auf vielen Seiten. Der Staatspräsident verneigte sich voller Verehrung vor dem Toten. Unter vatikanischen Klerikern war er ebenso geschätzt wie bei linken Intellektuellen. Die einen sahen in ihm immer den stark christlich inspirierten Poeten, den anderen war der mutige Zivilbürger immer überaus sympathisch. Einzig Berlusconi mochte ihn nicht, weil sich Luzi einmal die Freiheit herausgenommen hatte, den italienischen Ministerpräsidenten mit Mussolini zu vergleichen.

Foto © Giovanni Giovannetti/effigie

Wer etwas erfahren will von den noblen und anständigen, den demokratischen, antifaschistischen und auch aufgeklärt religiösen Traditionen Italiens jenseits von Mafia, Korruption und politischer Dekadenz, sollte vielleicht einmal Gedichte von Mario Luzi lesen. Und da sie in italienischer Originalfassung selbst für Italiener oft schwer zu verstehen sind, ist man da natürlich ganz besonders auf Übersetzungen angewiesen. Noch vor einigen Jahren konnte eine mit seinem Werk gut vertraute Kritikerin mit Recht beklagen, dass es „blamablerweise“ nur ein einziges Buch mit seinen Frühwerken in deutscher Sprache geben würde. „Während beispielsweise die Franzosen nicht müde werden, Luzi als den ‚in Frankreich am meisten geliebten Dichter’ zu publizieren, verharren die deutschen Verleger in peinlicher Schläfrigkeit“ (Ute Stempel).

Diese Kritik ist durch den jetzt in der verdienstvollen „Edition Akzente“ des Hanser Verlags  erschienenen Bandes mit Gedichten aus den späteren Jahren von Luzi überholt. Nur unter monetären Gesichtspunkten gesehen, ist es mehr als mutig, einen Band mit so schwer verstehbaren, ganz und gar sperrigen Gedichten zu edieren. Die Auflage dürfte sehr gering bleiben. Literarisch aber ist der von Guido Schmidlin herausgegebene und auch übersetzte Band „Auf unsichtbarem Grunde“ ein großes Geschenk an alle Lyrikfreunde, die mit diesem vielleicht zum ersten Mal mit der Poesie eines der bedeutendsten Schriftsteller Italiens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannt gemacht werden.

Vielleicht lese man das Nachwort des Herausgebers zuerst, weil sich so viele der Gedichte von Luzi besser erschließen lassen. „Immer von neuem nimmt Luzi es auf sich, die Zerrissenheit zwischen Verzweiflung über den Zusammenbruch und Hoffnung auf Erneuerung abzumildern in eine Gegensätzlichkeit, welche die Einheit nicht ausschließt und die Möglichkeit der Entstehung von Neuem eröffnet“ (Schmidlin).

Reiner, aristokratischer Ton

Schwer und eigentlich unverantwortlich ist es, aus diesen Langgedichten, die in ihrer zerrissenen Form noch einmal zusätzlich auseinandergebrochen werden, einzelne Zeilen und Verse herauszunehmen. Aber vielleicht kann man nur so zu einer Lektüre des gesamten Bandes hinführen. Einmal heißt es da: „Ich erinnere mich nicht an Prag, / ich erinnere mich nicht an mich in Prag.“ Im ersten Teil ist der Vers nicht spektakulär. Jeder Reisende wird so oder ähnlich von seinem Aufenthalt in Prag oder in jeder anderen fremden Stadt erzählen. Dann aber wird die Erinnerung radikal subjektiv, bezieht sich auf das ganz eigene Erleben der Fremde: „Ich erinnere mich nicht an mich in Prag.“ Oder an anderer Stelle in einem langen Gedicht mit dem Titel „Der Lauf der Flüsse“ heißt es: „Noch ist er da, der Fluß, / aber wo ist das Fließende des Flusses, wo die Seele?“ Da ahnt man, warum Luzi gerade in seiner scheinbaren poetischen Verschlossenheit so beliebt gewesen ist. Er nimmt die Wirklichkeit, das Reale (hier den Fluss) in einer Weise wahr, die sich dem Alltagsbewusstsein verschließt (der nicht fließende Fluss). Wenn es eine der vornehmsten Aufgaben der Poesie ist, eine Sprache für das Unaussprechbare, für das in der Welt, in einem selbst Verborgene zu finden, dann hat Luzi dafür einige große, beispielhafte Gedichte geschrieben.

Die Gedichte von Mario Luzi, so hat es der linke Literaturkritiker Alberto Asor Rosa in seinem Nachruf geschrieben, hätten einen extrem reinen, sogar aristokratischen Ton. Nichts sei an ihnen populistisch, den Massen gefällig geschrieben. Trotzdem aber sei er für Jahrzehnte einer der beliebtesten Intellektuellen Italiens gewesen. Vielleicht entdeckten viele in seinen Gedichten genau die Sprache, die ihnen fehlte, um das „ans Licht Kommen des verborgenen Teils der Epoche“, in der sie lebten, zu begreifen. Wie unendlich weit entfernt von dem Mediengeschwafel unserer Zeit sind doch diese Gedichte. Keines ist profitabel verwertbar, keines kann einem den Karriereweg in der Businesswelt erleichtern. Aber das sind natürlich auch keine Kriterien, um große Poesie zu bewerten.

Carl Wilhelm Macke

Mario Luzi: Auf unsichtbarem Grunde. Gedichte. Aus dem Italienischen von Guido Schmidlin. München: Edition Akzente beim Hanser Verlag 2010. 328 Seiten. 19,90 Euro. Zu einem Gedicht von Luzi auf satt.org.