Klasse? Klassen!
Die Krimibestenliste Juni 2008 dokumentiert es schwarz auf weiß: Deutschlands Krimi-Kritiker lesen nicht gerne Kriminalromane von Frauen. Wie schon so oft stammt auch diesmal nur einer der empfohlenen Romane aus weiblicher Feder.
Woran liegt’s? Chauvinistische Manipulation, wie aus Kreisen der „Mörderischen Schwestern“ zu hören ist? Oder doch nur Zufall, wie Tobias Gohlis, der Jury-Sprecher, betont? – Der folgende Text ist ein Statement zur Sache: TITEL konnte Ulrike Noller, die Zwillingsschwester des Jurymitglieds Ulrich Noller, für einen Beitrag gewinnen. Ulrike Noller hat sich bislang noch nicht in der Öffentlichkeit über das Genre geäußert, weil sie das Feld ihrem Zwillingsbruder überlassen wollte. Dass sie sich jetzt doch zu Wort meldet, hat einen einzigen Grund: Das Ungleichgewicht zwischen Weib und Mann in der KrimiWelt, sagt sie, müsse beseitigt werden. Auch wenn sie das den Familienfrieden koste.
Sabine Zaplin: Königskinder
Blitzende Wellen im Sonnenschein, eine bayerische Sommeridylle, viele Menschen staunen: Auf dem Starnberger See schaukelt ein Boot, in dem drei Männer stehen, die mit schwarzen Kapuzen vermummt sind. „Es war Mord“, skandieren die Drei schweigend, indem sie entsprechende Papptafeln hochhalten.
Eine Show der Kurverwaltung? Ku-Klux-Klan à la Bavaria? Nein, aber so ähnlich: Die Guglmänner sind am Werk, eine Geheimvereinigung von König-Ludwig-Anhängern. Sie treten für die alten Zeiten, für die Monarchie, vor allem aber für die Erkenntnis ein, dass der „Kini“ weder schwul war, noch Selbstmord beging, sondern ermordet wurde.
Unwichtig jenseits der Donau, aber immerhin: ein spannendes Motiv – und ein sehenswertes Einstiegsbild. Könnte was ergeben, für eine Geschichte. Könnte, denn auf Seite 8, am Ende des Einstiegs, war´s das auch schon mit dem Lesevergnügen; zumindest wenn man Sabine Zaplins Geschichte als Kriminalroman lesen möchte, und diesen Anspruch erhebt dieses unausgegorene Buch.
Ein Journalist, der einen der Guglmänner erkannt hat, wird ermordet; ein Antiquar namens Hauke Herlyn, der eigentlich von der Nordseeküste stammt, macht sich auf die Suche nach dem Täter; er findet nicht nur heraus, dass alles (natürlich) ganz anders war, als man vermutete; sondern er muss sich auch noch mit einem blinden Fleck in seiner eigenen Geschichte rumschlagen, die „zufällig“ mit dem ermordeten Schreiberling und den Guglmännern zusammenhängt – auch wenn sich das fragliche Geschehen vor vielen Jahrzehnten Welten entfernt abgespielt hat, nämlich im (klaro: nebligen) Watt bei Norden.
Das Ergebnis ist eine hanebüchene, überkonstruierte Story, die auch figurenpsychologisch, atmosphärisch und sprachlich nicht überzeugt. Ja, ja, schon klar: Ne nette Idee ist da, schreiben wir mal nen Krimi, das kriegt man schon hin, ist ja schließlich keine Kunst, kann ja jeder …– Sorry, aber genau das ist nicht der Fall: Krimi, das beweist Königskinder muss man halt schön können.
Alexandra Kui: Blaufeuer
Apropos Nordseeküste: Eine Region, die (ebenso wie die Alpen und das Alpenvorland) immer mehr für Kriminalromane made in Germany entdeckt wird. Insofern vermeintlich eine schlaue Idee, beides zu verbinden. Funktioniert bloß nicht, wenn man sich zu wenig Mühe gibt.
Egal. An der Nordseeküste, am plattdeutschen Strand … sind jedenfalls nicht nur die Fische im Wasser, sondern auch ein junger Mann namens Erik Flecker, der im Watt, an der Austernzucht seines Vaters ertrinkt, weil jemand die Boje, die er reparieren wollte, so manipuliert hat, dass der zum Tode Verurteilte stecken bleibt. Und weil kurz darauf auch noch der Werftbesitzer-Papa des Toten durch einen Schlaganfall niedergestreckt wird, muss die Person ran, an Werftgeschäftsführung und Fall, aus deren Perspektive die Story erzählt wird: Janne Flecker, die Schwester des Toten, eine Geigerin, die sich eigentlich mittig Berlin durchs Leben treiben lässt. Sie muss die Werft retten, den Täter rechtzeitig finden, selbst der Gefahr entgehen, eine südländische Nebenbuhlerin ertragen, dunkle Familiengeheimnisse aufklären etc.
Hört sich nach Schmonzette an? Nach Adel und Ärzten? Nach Degeto-Fernsehfilm der Woche? Ist es auch: Ein Fall von klassischer Groschenheftgeschichte, die so aufgemotzt wurde, dass man fast drauf reinfallen und denken könnte, es handelte sich hier tatsächlich um Kriminalliteratur. Ist aber nicht der Fall. Stattdessen: Schundliteratur, wenn auch auf höherem Niveau, mit einer vor Klischees strotzenden Geschichte, deren Autorin (sprachlich) vor keiner Peinlichkeit zurückschreckt – bis hin zu den berühmt-berüchtigten „Städtern“ in den „Designerjeans“, die den Landbewohnern mit den vom Wetter gegerbten Gesichtern so unerreichbar fremd vorkommen.
Renate Niemann: Der Graumacher
Einen ganz anderen Bezugsrahmen als den des Groschenhefts visiert die Kulturwissenschaftlerin Renate Niemann in ihrem Debütkrimi an: „Ein Thriller, an dem Hitchcock seine helle Freude gehabt hätte“, so wirbt der Pendragon Verlag vollmundig für Der Graumacher. Ob dies hehre Versprechen zu halten ist?
Rita Toski, Volontärin bei der örtlichen Regionalzeitung, gerät auf dem Weg zur Arbeit bei einem verlassenen Haus ins Straucheln, verliert ihr Täschchen – und muss den Verlust eines Lippenstifts beklagen, der in einem Fensterschacht des Hauses verschwunden ist. Rita versucht, den Lippenstift zu bergen und entdeckt am Rande des Schachts eine in den Stein geritzte Inschrift: „Hilfe! Mariana Reinhard.“
Wer ritzt einen solchen Text in Stein, vermutlich über Monate? Rita fängt Feuer, sie will wissen, was es mit dieser Mariana Reinhard auf sich hat, und sie bezieht ihre beiden Mit-Volontäre in die Recherchen ein. So kommt es, dass eine arrogante Adelstochter, ein verklemmter Aktenwühler und eben die taffe Heldin des Buches auf eine gruselige Geschichte stoßen, nämlich die der kleinen Mariana, die von ihrem irren Psychiater zur Kriegs- und Nachkriegszeit jahrelang in dem kalten Kellerverlies festgekettet wurde.
Was die drei Hobbyermittler nicht wissen können: Noch immer ist ein unheimliches Wesen in dem mysteriösen Haus aktiv. Ein Wesen, das schwarzhaarige Frauen unter 30 tötet. Und Rita Toski ist genau sein Typ …
Alles gewagt – und fast alles gewonnen: Renate Niemann hatte den Mut, ihren Debütkriminalroman nicht nur in der Vergangenheit spielen zu lassen, sondern auch ihn mit Hilfe eines unkonventionellen Genremixes zu erzählen: Hier Elemente der Gothic Novel, da Anteile des Serienkillerromans, dort Charakteristika des lichten Frauenunterhaltungsromans.
Das Ergebnis, so erstaunlich es wirken mag, funktioniert, denn Der Graumacher erzählt – ganz im Hitchcockschen Sinne – eine bei allem Horror doch plausible Geschichte. Schade nur, dass die Autorin ihrem kühnen Entwurf offensichtlich selbst nicht ganz getraut und immer wieder kurze, quasi erklärende Sequenzen aus der Sicht des Monsters einmontiert hat; wohl, um den Plot nicht zu sehr in Richtung Schauerroman abdriften zu lassen. Genau das hätte ein Hitchcock vermieden, da wäre weniger mehr gewesen.
Lucie Klassen: Der 13. Brief
Und sonst? Die schönste Überraschung des Krimifrühlings 2008 kommt ausgerechnet aus dem Heilkurort Bad Pyrmont, wo die Physio- und Reittherapeutin Lucie Klassen, geboren 1977, ihren ersten Kriminalroman Der 13. Brief geschrieben hat.
Nein, keine Sorge, die Geschichte ist nicht im Niemandsland von Bad P. angesiedelt, sondern in Bochum, wo die etwas eigenwillige Erzählerin Lila Ziegler landet, nachdem sie sich entschieden hat, mal zu schauen, wohin das Leben respektive die Deutsche Bahn sie so verschlägt. Lila sollte eigentlich in Bielefeld ein Jurastudium starten, hat sich dann aber im letzten Moment entschieden, nicht ihres Vaters Plan zu folgen, sondern der ihr eigenen Renitenz.
In Bochum also treibt es Lila – zufällig, klar – vor das Gebäude, in dem die Anfangsvierziger Molle und Danner hausen. Der Kneipier und der Detektiv bilden eine seltsame Männer-WG, sporadisch ergänzt von dem Bullen Staschek. Dieser ermittelt zusammen mit Danner den unerklärlichen Selbstmord einer Vorzeigeschülerin, und da kommt Lila, nachdem sie sich nun schon mal mit der ihr eigenen Penetranz eingezeckt hat, als angehende Detektivin wie gerufen. Auch wenn das heißt, dass sie an den einzigen Ort zurückkehren muss, der ihr noch verhasster ist als das Elternhaus: Die Schule …
Was daraus und darauf folgt ist ein intelligenter, witziger, authentischer Kriminalroman, dem es in Form seiner Erzählerin mühelos gelingt, die Welt der 18-Jährigen mit der der 40-Jährigen zu verbinden. Natürlich hat das Buch auch seine Problemchen, hier eine überflüssige Länge, dort eine kleine Überkonstruiertheit. Aber all das ist unwichtig angesichts der unbefangenen Erzähllust dieser Autorin und der tollen Respektlosigkeit ihres Textes.
In gewisser Weise greift Lucie Klassen dabei eine große deutsche Krimitradition auf. Erinnert sich noch jemand an die wundervollen, zynischen Gonzo-Romane, mit denen das Autorenteam Karr & Wehner in den neunziger Jahren die Krimileser entzückte, die es sowohl hart gesotten wie auch witzig mögen? Seit Jahren verweigern sich die beiden einer Fortsetzung ihres Quartetts, allen Lockungen zum Trotz. Doch damit ist es jetzt vorbei: Lucie Klassen dockt mit ihrer Story, mit ihrem Witz, mit ihrer intertextuellen Präsenz da an, wo es Karr & Wehner enden ließen, und sie tut dies auf souveräne und kluge Art und Weise.
Und als wäre das nicht schon genug, lässt sich Der 13. Brief – wenn man so will – auch noch als gewitzter Beitrag zur Charlotte-Roche-Feminismus-Diskussion lesen. Da kann man nur sagen: Klasse? Klassen! Respekt! Mehr davon, BITTE!
Ulrike Noller
• Sabine Zaplin: Königskinder. Langen Müller 2008. 272 Seiten. 18,90 Euro.
• Alexandrea Kui: Blaufeuer. Hoffmann und Campe 2008. 317 Seiten. 16,95 Euro.
• Renate Niemann: Der Graumacher. Pendragon 2008. 254 Seiten. 9,90 Euro.
• Lucie Klassen: Der 3. Brief. Grafit 2008. 350 Seiten. 9,95 Euro.
Ulrike Noller, geboren 1966, praktiziert als Zahnärztin in Bulgarien. Ulrich Noller distanziert sich ausdrücklich von ihrem Text. Im sei es wichtig, betont Noller, keinen Ärger mit den „Mörderischen Schwestern“ zu bekommen. Außerdem lese er – ähnlich wie Tobias Gohlis – sowieso lieber Kriminalromane von Männern.