Alltag & Gewalt
Andrew Taylors historische Kriminalromane verdienen eine sehr genaue und kompetente Lektüre, denn sie sind etwas sehr Eigenes. Dafür Lob und Preis von Tobias Gohlis.
Lebt sie eigentlich noch, die gute alte britische Krimitradition? Kann sie überhaupt noch am Leben sein? Damit meine ich nicht die gemütlichen alten Dorfschnulzen, in denen Miss Marple und Inspektor Barnaby unter verschrobenen Oberklässlern und Grundbesitzern herumhäkeln und unglaublich kompliziert konstruierte und völlig unwahrscheinliche Fälle am Meterband lösen. Das ist ästhetisch vorbei und erledigt, auch wenn man es fast jeden Abend zu sehen kriegt.
Zu denen, die in der Tradition des golden age stehen, sie aber modernisiert und umgekrempelt haben, gehört neben anderen (Reginald Hill, das amerikanische Mutter-Sohn-Duo Charles Todd und neuerdings Phil Rickman) vor allem Andrew Taylor. Der 1951 in Stevenage geborene Autor ist hierzulande mit seiner Roth-Trilogie und einer Serie bekannt geworden, die in den fünfziger Jahren in der fiktiven Kleinstadt Lydmouth spielt.
Sinnvolle Historizität
Taylor, der unter anderem Geschichte studiert und deshalb seinen ersten Mordfall Caroline Minuscule (bis heute nicht übersetzt) von 1982 auch in der Historischen Fakultät von Cambridge angesiedelt hat, ist sich genauestens der Historizität seines Verfahrens bewusst. Beinahe alle 20 Kriminalromane, die er geschrieben hat, spielen in fest umrissenen vergangenen Zeiten. Sein Erzählton ist leise, er lässt sich und seinen Lesern Zeit, seine Figuren zu verstehen, er ist ein Meister von Zwischentönen, und seine Lieblingshelden sind Heldinnen, die ein durchaus konventionelles Leben führen, aus diesen Konventionen aber meist mehr oder minder sachte ausbrechen.
Lebten Agatha Christies Krimis von der willkürlich aufrecht erhaltenen Fiktion, Mord sei gewissermaßen Alltag, rekonstruiert Taylor diesen Alltag – und staunt, welche Gewalt darin oft enthalten war. Rekonstruktion oder sogar Restauration – im Sinne einer Wiederbelebung und Vergegenwärtigung längst verschollener Lebensdetails und Alltagspraktiken – ist eine seiner Stärken. All diese erzählerischen Fähigkeiten, die ihn in England überaus beliebt gemacht und ihm in Schweden gerade den Martin-Beck-Preis für den besten ausländischen Roman eingebracht haben, begeistern auch in seinem jüngsten Roman Das tote Herz.
No bleeding hearts
Es ist 1934, und im Vereinigten Königreich macht sich die British Union of Fascists Oswald Mosleys breit – eine der absurdesten Missgeburten des europäischen Nationalismus und Antisemitismus. Taylors Leidenschaft für verwinkelte muffige Schauplätze im Schatten historischer Kirchen und Pfarrhäuser führt diese britischen Nazis und seine Heldin Lydia Langstone in einer Sackgasse namens „Bleeding Heart Square“ zusammen.
Doch bis es dazu kommt, muss Lydia erst einmal etwas vom Leben lernen. In einem Akt spontanen Widerstands hat sie ihren Schläger von Mann verlassen und damit all die Annehmlichkeiten des Wohlstands, die mit einer Ehe in höheren Kreisen verbunden waren. Sie muss arbeiten gehen, sich von subalternen Vorgesetzten demütigen lassen und sich um ihren versoffenen Vater kümmern, der am „Platz des blutenden Herzens“ eine heruntergekommene Zweizimmerwohnung bewohnt.
Das Haus hat einer Philippa Penhow gehört, und jedes Kapitel des Krimis wird mit einem deprimierenden Ausschnitt aus dem Tagebuch dieser verschollenen Frau begonnen. Vermutlich ist sie von dem alternden Faun umgebracht worden, dem das Haus und die Bettwäsche mit ihrem Wäschezeichen gehört, das Lydia auf die Spur bringt. Bis Lydia erfreulich selbstständig wird, werden wie in einem viktorianischen Krimi eine Menge merkwürdiger Abstammungen offenbar, ertönt als Grundrauschen der Epoche das Dauerstöhnen der oberen Mittelschichten über ihren Geldmangel und offenbart sich der einzige wirklich reiche Mensch als anständig und Sozialist. Das ist dann doch eine kleine Freude und lässt einen diese beschissene Zeit, die Taylor mit eleganter Wut und der Akribie eines Dickens schildert, als statte er einen Film aus, etwas leichter ertragen, ja genießen. In aller Breite.
Tobias Gohlis
Andrew Taylor: Das tote Herz (Bleeding Heart Square, 2008). Roman.
Aus dem Englischen von Isabel Bogdan.
München: Goldmann 2009. 478 Seiten. 12 Euro.
| Andrew Taylors Homepage
| Zur Homepage von Tobias Gohlis
| KrimiWelt-Bestenliste