Geschrieben am 5. September 2004 von für Litmag

Gift der Gewöhnung

Gift der Gewöhnung

Tag für Tag werden überall auf der Welt die Menschenrechte verletzt, mit den Füßen getreten, verhöhnt und offen bekämpft. Eine banale Erkenntnis. Sie darf in keiner Sonntagspredigt für alle gutgläubigen Gemeinden fehlen. Man hört schon gar nicht mehr hin, wenn an die hehren Zielen der Menschenrechtskonvention erinnert wird. Amen… Über den stärksten und schmerzhaftesten Angriff auf die Menschenrechte aber schweigt man gerne. Er geschieht lautlos, immer versteckt im Trott des Alltags, immer in unserer unmittelbaren Nähe. Und nicht selten sind wir selber Urheber dieser wirksamsten Missachtung der Menschenrechte. Es ist die verdammte schleichende Gewöhnung an Nachrichten über fehlende, bedrohte oder mit aller Macht bekämpfte Menschenrechte. Irgendwann kann man es nicht mehr hören und lesen. Man bekennt sich, zuerst noch schlechten Gewissens, dann aus Überzeugung zum Prinzip der drei Affen: Ohren, Augen und Mund zu! Werden wir konkreter und reden wir über den allen Journalisten und Publizisten besonders wertvollen Artikel 19 der Menschenrechte. Zur Erinnerung: „Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinung und Meinungsäußerung; dieses Recht umfasst die Freiheit, sich Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu beschaffen, zu empfangen und zu verbreiten.“ Große Worte, die wir Zeile für Zeile unterschreiben. Aber dann? Das Prinzip der drei Affen…. In ganz besonders spektakulären Fällen, wenn zum Beispiel ein Journalist während der Berufsausübung ermordet wird, hält man vielleicht für einen kurzen Moment inne. Dann aber, wenn uns zu viele schlimmen Nachrichten aus allen Winkeln der Welt erreichen, beginnt das Abstumpfen jeder besonderen Aufmerksamkeit. Das Gift der Gewöhnung an Menschenrechtsverletzungen, an die Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit, an die Liquidierung der professionellen Chronisten der Weltpolitik breitet sich aus. Ende August 2004: im Irak wird der italienische Journalist Enzo Baldoni von Kidnappern entführt und hingerichtet. Außerhalb seines Heimatlandes Italien wird dieses Ereignis kaum zur Kenntnis genommen. Auf den Medienseiten der Zeitungen und Magazine erscheinen kurze Meldungen. Man kann nicht über jeden toten Journalisten berichten. Und man muss noch Platz haben für die Präsentation der neuesten Soap Operas im Vorabendprogramm. Unmittelbar nach der Hinrichtung von Baldoni wurden ebenfalls im Irak die zwei französische Journalisten Christian Chesnot und Georges Malbrunot gekidnappt und mit einer brutalen Exekution bedroht, falls der französische Staat nicht auf politische Erpressungen eingeht. Meteorologisch mag der jetzt zu Ende gehende Sommer in Deutschland durchschnittlich gewesen sein. Für Journalisten, die in den Krisenregionen der Welt arbeiten, war die erste Hälfte des Jahres 2004, vor allem der Sommer, so blutig wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. Und ganz an der Spitze der besonders gefährdeten Gebiete liegt der Irak. Allein in den ersten acht Monaten des Jahres 2004 sind hier nach Angaben der „Internationalen Journalisten-Föderation“ 75 Mitarbeiter von Medien getötet worden.

An diese Nachrichten aus dem Irak ist man inzwischen bereits zu sehr gewöhnt. Man beginnt sie, zu verdrängen. Aber da sind noch andere Regionen und Staaten, in denen man von den Verpflichtungen des Artikels 19 der Menschenrechtserklärung nur träumen kann. In Nepal geraten immer mehr Journalisten zwischen die Fronten einer aggressiven maoistischen Guerrilla und den als nicht weniger brutal bekannten nepalesischen Sicherheitsdiensten. In Zimbabwe werden Zeitungsredaktionen verfolgt, wenn sie sich einen falschen Ton gegenüber dem diktatorischen Mugabe-Regime leisten. Organisationen wie die „Reporter ohne Grenzen“ oder der Münchener Verein „Journalisten helfen Journalisten“ erhielten in diesem Sommer fast täglich Nachrichten über Repressionen und Todesdrohungen gegenüber unabhängigen Journalisten aus allen Teilen der Welt. Besonders gefährlich ist die Situation von Journalisten im Iran, auf den Philippinen und den Malediven, in Pakistan, der Elfenbeinküste, auf Kuba, in der Ukraine, Weißrussland und Russland. Diese Nachrichten aber einfach kommentarlos hinzunehmen, bedeutet nichts anderes, als das Gift der Gewöhnung an die Verfolgung von Publizisten widerstandslos und unbeachtet zu akzeptieren. Der Artikel 19 des Menschenrechtskatalog gilt überall und zu jeder Zeit. Und man kann ihn nicht ­ siehe aktuell vor allem China ­ einfach zu Gunsten guter Geschäftsbeziehungen vergessen. Aidan White, Generalsekretär der Internationalen Journalisten-Föderation, befürchtet, dass 2004 zu einem besonders dramatischen und auch blutigen Jahr für Journalisten und Schriftsteller werden könnte. Aber vielleicht wird man sich auch an diese Warnung gewöhnen.

Carl Wilhelm Macke