Der Roman: Ein ekelhafter Leichnam (Un cadáver asqueroso)
– 2009 begannen die Diez Negritos einen Online-Krimi zu verfassen. In ironischer Anlehnung an die surrealistische Methode des cadavre exquis („köstlicher Leichnahm“) betiteln sie ihren Gemeinschaftsroman mit „Ein ekelhafter Leichnam“ („Un cadáver asqueroso“); und tatsächlich präsentiert uns im ersten Kapitel ein Gerichtsmediziner einen unerklärlich ekelhaften Leichnam in einer Stadt, die Merkmale von allen möglichen hat und keine einzige ist…
Nach der Maxime von Paco Ignacio Taibo II, derzufolge die Anarchie die einzige natürliche Ordnung ist, folgt der Roman keinem vorgefertigten Plan und daher dürfen wir sicher mit der einen oder anderen Überraschung rechnen.
Die Autoren: Diez Negritos
Zehn spanischsprachige (Krimi-)Autoren haben sich im März 2009 unter der Koordination des französischen Literaturwissenschaftlers, Kritikers und Autors Sébastien Rutés zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Blog zu verfassen: Paco Ignacio Taibo II, Antonio Lozano, Carlos Salem, Eduardo Monteverde, Juan Hernández Luna, Lorenzo Lunar, Rebeca Mugra, Sébastien Rutés, Jorge Belarmino Fernández und Juan Ramón Biedma. Im Sommer 2009 stießen die Spanierin Cristina Fallarás, der Italiener Bruno Arpaia und der Mexikaner Jorge Moch dazu, sodass aus den zehn kleinen Negerlein dreizehn wurden. Leider schrumpfte die Zahl im Juli 2010 durch den unerwarteten Tod von Juan Hernández Luna jedoch wieder auf zwölf.
Mit der Bezeichnung „Diez Negritos“ („Zehn kleine Negerlein“) spielen die Autoren nicht nur auf das Kinderlied, sondern auch auf den Roman „Ten Little Niggers“ von Agatha Christie an. Des Weiteren sind mit „Negritos“ natürlich die Verfasser von novelas negras (Kriminalromanen) gemeint. Das Gemeinschaftsblog ist in erster Linie ein Ort der Diskussion über Kriminalliteratur, aber auch über viele angrenzende Themen, und wird von dem französischen Verlag L’Atinoir unterstützt. Laufend publizieren die Autoren dort Essays, Erzählungen, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Gemälde, Kommentare, autobiografische Notizen…
Zu einer Übersicht aller bisherigen Teile geht es hier
XIII
Guillermo Orsi
übersetzt von Dorothee Calvillo
Ohne Schlüssel in eine Festung einzudringen ist vom ersten Schritt an ein schwieriges Unterfangen, gelingt es aber, kommen die Überraschungen so sicher wie das Amen in der Kirche.
Die Nacht ist dabei eine stets zwiespältige Komplizin und kaum als hilfreiche Begleitung geeignet: Ein leises Geräusch, ein einfaches Niesen erschüttert bereits die Seismographen jener Grabesstille, in die sich das Gebäude der Zócalo-Gruppe hüllt.
Toledo weiß Bescheid, Caronte jedoch ist anderes gewohnt: Er dringt sonst nur in Körper ein, die keinen Widerstand mehr leisten, arbeitet sich vor in die Passivität eines Fäulnisprozesses, der dem Eindringling nichts weiter entgegenzusetzen hat als seinen widerwärtigen Pesthauch. Als Toledo ihm vorführt, wie er seine Knochen in der Art eines Schlangenmenschen zusammenfalten muss, damit er sich in das schmale Kellerfenster zwängen kann, wird Caronte bewusst, dass er schon zu viel Leben hinter sich hat, den Großteil davon mit festgeklebtem Hintern, festgeklebt auf seinem Hocker für Spanner auf der Suche nach dem Nichts.
„Unter dem Vorwand, den Tod der anderen aufzuklären, versucht man herauszufinden, was einem selbst bevorsteht“, sagt Caronte, während er sich mit einem verklemmten Fensterladen abmüht, der noch weniger Licht durch die schmale Öffnung dringen lässt.
„Sprechen Sie nicht, sonst geht Ihnen die Luft aus“, rügt ihn der Polizist und setzt nervös hinterher: „Wen kümmern denn jetzt deine philosophischen Grübeleien, du alter Sack.“
„Einen wie dich weder jetzt noch sonst wann. Sobald ein Bulle nicht mehr zielen kann, gibt man ihm Kugeln und eine gute Rente.“
„Noch treffe ich. Los jetzt.“
Toledo schiebt Carontes Hintern an, und als er hört, wie dieser auf der anderen Seite gleich einem Sack Kartoffeln auf den Boden plumpst, lässt er sich durch das Fenster gleiten und erstarrt, als er an der Seite des Totenarztes landet.
„Hier ist es dunkler als in einer Aristokratenkrypta.“
Toledo: „Ich besuche keine Krypten. Überhaupt gehe ich nicht auf Friedhöfe.“
„Ich tat es wegen meiner Arbeit. Die Reichen besucht keine Sau. Sind sie erst einmal hinüber, teilen sich die Erben die Beute und ziehen aus in die Welt, um sie zu verschleudern. Die eisernen Beschläge ihrer Särge und die pompösen Türen ihrer Grabgewölbe verrosten. Von den Blumen, die man ihnen gebracht hat, bleiben nicht einmal Leichen.“
„Da entlang.“
Toledo deutet auf einen schwachen Lichtschein am Ende von etwas, das wie ein Korridor aussieht.
„Blumenleichen“, wiederholt er missbilligend den Kommentar des Forensikers, „nur einem berufsmäßigen Entbeiner können tote Blumen einfallen, die sich in Leichen verwandeln.“
Während sie sich tastend voran arbeiten, weil sie keine Lampen anzünden wollen, ist ihr erster Eindruck, dass das Reinigungspersonal dieses Gebäudes entweder streikt oder sehr schlecht bezahlt wird und dabei ebenso schlecht putzt, wie es bezahlt wird. Eine Schmutzschicht unterschiedlichen Ursprungs bildet ein dickes Polster auf dem Boden. Der angesammelte Staub amalgamiert ein wahres Müllsortiment: Papiertücher, Gazeknäuel, Wattebäuschchen unterschiedlicher Färbung, einschließlich des sattsam bekannten Blutrot.
„Krankenhausmüll“, raunt Caronte.
„Zum Teufel, das ist aber kein Krankenhaus.“
Der Forensiker hat Recht, und eben das ist es, was Toledo irritiert: Dass die Teile sich nicht ineinanderfügen, dass Caronte und er etwas ganz anderes suchen und dass sie überhaupt dort sind, wie zwei Junkies, ausradiert von der Dunkelheit und dieser abscheulichen Stille, wehrlos gegenüber jeglichem Angriff, auch wenn im Augenblick hier alles scheint, als sei es seit Monaten verlassen, obwohl es zweifellos bis heute Leben gab, Menschen, die ein- und ausgingen, Manager, Hausmeister, vielleicht ein paar Techniker.
„Haben Sie irgendeine vermaledeite Idee, wie wir zu Verónicas Büro kommen?“, regt sich Toledo schon wieder auf.
„Diese Gebäude sind in den Sechzigern gebaut worden, als man zum Arbeiten noch Tageslicht bevorzugte.“
„Ich wusste ja gar nichts von Ihrem Faible für Architektur.“
„Wir Forensiker beschränken uns nicht darauf, Leichen auszunehmen, wir interessieren uns auch für die Welt der Lebenden. In jeder sozialen Struktur gibt es die Privilegierten und die Außenseiter, so läuft das eben. Verónica spielte nicht in der zweiten Liga, sie wollte höher hinaus. Ganz nach oben ist sie nicht gekommen, weil man sie schließlich ausgeschaltet hat, aber ihr Büro muss auf der Sonnenseite liegen.“
„Auf welcher Sonnenseite, um zwei Uhr nachts?“
Caronte macht sich nicht die Mühe, den Polizisten zu belehren und täuscht sich auch nicht, als er einen Gang ansteuert, der zur Ostseite des Gebäudes führt.
„Hier ist es“, bemerkt er triumphierend.
„Woher wollen Sie das wissen? Hier gibt es kein Namensschild.“
Drei Türen reihen sich vor den Eindringlingen auf, verschlossen und dunkel wie alles Übrige.
„Die mittlere ist es.“
Im Grunde handelt es sich um eine willkürliche Wahl, einen Zufallstipp, als würde jemand eine beliebige Spielkarte wählen, doch allein Caronte weiß das.
„Machen Sie sie auf.“
Gehorsam zieht Toledo seine Dietriche aus der Tasche, er widersetzt sich Caronte nicht.
Wenn die Welt ihr chaotisches Selbst offenbart, bleibt einem nur, blindlings zu entscheiden oder aber zu gehorchen, und ein guter Bulle wählt angesichts jeder komplexen Situation das Gehorchen.
Das Büro ist leergeräumt, man hat die Möbel weggeschafft und alles, was an der Wand hing. Nur die Spuren im Staub sind geblieben, die verwaisten Nägel und ein Festnetztelefon auf dem Fußboden.
Die Eindringlinge dämpfen mit den Händen das Licht ihrer Taschenlampen, auf der Suche nach einem Hinweis laufen sie durch den Raum, nach etwas, das die Möbelpacker in irgendeinem Winkel übersehen haben könnten, vielleicht unter einem Blatt Papier oder einem Häufchen Zigarettenasche.
Da ist es, unter der Asche.
„Eine Diskette.“
Caronte hält sie zwischen Daumen und Zeigefinger, beinahe ohne sie zu berühren, als wäre sie ein kleines bissiges Tier.
„Für die Informatik ist so ein Ding das gleiche wie ein ägyptischer Papyrus für die Archäologie“, sagt Caronte, der sich aus Altersgründen so schwergetan hatte mit dieser Welt aus Bits und Resets, dass er nun keinesfalls ein solches fossiles Überbleibsel beiseite fegen würde, könnte es sich doch womöglich noch als das fehlende Glied in der Geschichte entpuppen, die sie zu rekonstruieren versuchen: „Auch wenn vielleicht gar nichts drauf ist. Schlimmer noch, wir können sie nirgendwo lesen.“
„Alles hat Beweiskraft“, so spricht Toledo, der sich wundert, dass der Forensiker noch immer mit dem Starrsinn einer Katze, die die Maus nicht loslässt, die Diskette festhält, „aber wir ermitteln nicht in einem Verbrechen.“
„Nicht in einem, in mehreren.“
„Ich meine … Sie wissen schon.“
Beide wissen. Alle, oder beinahe alle in Ninguna wissen, dass man kaum einen Schritt zu tun braucht, um einen Menschen zu töten. Man braucht nur eine Tür zu öffnen, wie die des leergeräumten Büros von Verónica, oder einen Körper, als würde man ihn schälen, um darunter einen weiteren Körper zu entdecken, und in dessen Innerem ein winziges Indiz, das dem ungeübten Auge entgehen würde.
„Um diesen Papyrus zu entschlüsseln, bräuchten wir einen Ägyptologen“, bemerkt Toledo.
„Wir sind nicht hergekommen, um mit leeren Händen wieder zu gehen. Ich kenne jemanden, der uns helfen kann. Keinen von den Neuankömmlingen, keinen von denen, die die edle Ahnengalerie des binären Systems missachten. Diejenigen, die solche Dinge schätzen und aufbewahren gleichen Önologen, Sommeliers, die mit ihrem Gaumen den wirklichen Geschmack der Weine herausfiltern können, auch wenn sie bereits gekippt sind. Der ‚Ägyptologe‘, den ich kenne, besitzt einen alten Rechner. Wenn auf dieser Diskette irgendetwas ist, wird er es uns verraten.“
„Wenn irgendetwas drauf wäre, hätten sie sie nicht hier liegen lassen, damit wir von dem Wein trinken“, behauptet Toledo. „Lassen Sie uns weitersuchen, hier muss noch mehr sein.“
Caronte zuckt mit den Schultern und steckt die Diskette in seine Tasche. Sie suchen weiter, bis der Lichtkegel von Carontes Taschenlampe flackert und erlischt. Toledos Lampe leuchtet noch, weist aber ebenfalls erste Erschöpfungserscheinungen auf.
Sie entscheiden, dass die Untersuchung sich an dieser Stelle genauso erschöpft hat wie die Batterien und verlassen das Büro, welches ehemals Verónica gehörte, der nun keinerlei Sonnenlicht das Leben wieder zurückgeben würde. Still gehen sie den langen Korridor entlang, später dann den Flur, durch den sie gekommen sind und gelangen schließlich an das Fensterchen, durch das sie eingestiegen waren.
„Sie zuerst“, bestimmt Toledo, „wenn Sie steckenbleiben, schiebe ich.“
Doch diesmal bleibt Caronte nicht stecken, ganz im Gegenteil. Toledo und er werden beim hinausklettern unterstützt und schließlich eingeladen, die Hände zu heben und sich an der Außenwand des Zócalo-Gebäudes aufzustellen.
Betrachtet man sie aus dem subjektiven Blickwinkel des Bedrohten, besitzt die Mündung der Magnum eine ebenso unergründliche Größe wie ein kosmisches schwarzes Loch. Betitos Stimme dagegen klingt wie die von R2D2, dem prähistorischen Roboter aus „Krieg der Sterne“.
„Ganz ruhig, sonst werde ich nervös und muss abdrücken, leert eure Taschen aus und legt alles, was drin ist, auf den Rasen.“
Als Rückendeckung für Betito fungiert ein Wagen mit laufendem Motor und eingeschalteten Scheinwerfern, die auf die frischgebackenen Gefangenen gerichtet sind.
Obwohl er vom Scheinwerferlicht geblendet wird, erkennt Toledo hinter dem Steuer die Gestalt einer Frau.
„Schlechte Neuigkeiten“, Caronte an Toledo, wie ein Bauchredner, der die Bewegungen seiner Lippen zu verbergen sucht.
Betito bemerkt das Murmeln und zielt sorgfältig, auch wenn seine frischgebackenen Gefangenen sich offenbar mit größeren Sorgen herumschlagen als der durch nichts von der Hand zu weisenden Möglichkeit, unter so schnörkellosen Umständen wie zwei nächtliche Einbrecher in den Grünanlagen der Zócalo-Gruppe exekutiert zu werden.
„Der Ägyptologe, der Sommelier für gekippte Weine, das ist er.“
Caronte hebt kaum merklich das Kinn, um auf seinen Assistenten Betito zu weisen.
Guillermo Orsi, 1946 in Buenos Aires geboren, brach sein Medizinstudium ab, um Schriftsteller zu werden. Sein Geld verdient er unter anderem als Redakteur und Journalist. Er begann seine Schriftstellerkarriere mit Erzählungen, die in Argentinien Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht wurden. 1977 erhielt er für den Erzählband El vagón de los locos den Premio Emecé. 1983 erschien sein erster Roman: Cuerpo de mujer (1983). Erst viele Jahre später folgte der zweite: Tripulantes de un viejo bolero (1995). Nach einer weiteren Unterbrechung schrieb er den Kriminalroman Sueños de perro (2004), mit dem er den Premio Umbriel auf der Semana Negra de Gijón gewann. 2007 veröffentliche er Buscadores de oro und Nadie ama a un policía. Letzterer wurde ins Englische und Deutsche übersetzt und gewann 2010 den Premio Hammett.
Weiterlesen:
Guillermo Orsi: Im Morgengrauen (Nadie ama a un policía, 2007). Deutsch von Matthias Strobel. München: dtv, 2010. 365 Seiten. 8,95 Euro
Blog des Autors
Dorothee Calvillo verbrachte ihre Kindheit zwischen Spanien und Deutschland, studierte Romanistik und arbeitet seither als Fachübersetzerin. Seit 2005 studiert sie Literaturübersetzen in Düsseldorf und bereitet sich gerade auf ihr Diplom vor.