Geschrieben am 19. August 2004 von für Bücher, Musikmag

Alyn Shipton: A New History of Jazz

Sinnvoll und nützlich

Interessant, und damit mit dem nötigen Distinktionsgewinn gegenüber den anderen Übersichtsveranstaltungen ausgestattet, sind Shiptons Akzentuierungen.

Brauchen wir noch eine „History of Jazz“, bevor es endlich eine einzige, verlässliche, haltbare, definitive „Geschichte des Jazz“ gibt? Also ein Nachschlagewerk, das sämtliche Macken und Desiderate von „That´s Jazz“, Berendt, Polillo, Burns/Ward, Joost, Reclam und so weiter und so fort vermeidet? Einen Thesaurus, der alle Einzelstudien, Label-Geschichten, Musiker-Monographien, discographische Exerzitien, Interview-Bände, Sozialgeschichten, Krankheitsgeschichten lesbar zusammenfasst und auf den Punkt bringt?

Doch ach, je mehr solcher Einzelteile entstehen, desto schwieriger wird natürlich die Synthese, desto unübersichtlicher die Materialmenge, desto diffuser und prekärer die Relevanzerwägungen.

Insofern ist schon ein wenig Chuzpe dabei, wenn der BBC- und London-Times-Jazz-Experte Alyn Shipton jetzt eine „New History of Jazz“ verspricht und als 965-Seiten-Backstein (nebst CD, die bei meinem Exemplar fehlt) vorlegt.

Neu ist daran erst einmal gar nichts. Shipton hangelt sich durch die übliche Chronologie (was auch sonst?) anhand der üblichen Namen (wie auch sonst?) und ist deswegen für Leser und Leserinnen, die noch kein anderes der o.a. Werke kennen, bzw. gerade anfangen, sich für Jazz zu interessieren, nützlich und empfehlenswert.

Seine Kompetenz und sein Fachwissen müssen wir nicht diskutieren, vermutlich setzt Shipton eher zuviel als zu wenig Kenntnisse bei seinem Publikum voraus – aber darüber möchte ich lieber nicht spekulieren.

Interessant, und damit mit dem nötigen Distinktionsgewinn gegenüber den anderen Übersichtsveranstaltungen ausgestattet, sind Shiptons Akzentuierungen. Dem frühen Jazz, also bis zum Beginn der Swing-Ära in den 30er Jahren, widmet er volle 400 Seiten, das ist fast die Hälfte des Buchs. „Origins“ heißt dieses Kapitel, das sich in einer geschickten Mischung aus Musik- und Sozialgeschichte lobenswerterweise nicht in dem Paradigma New Orleans festbeißt, sondern versucht, die Entwicklung des Jazz in den gesamten USA nachzuzeichnen, und so den Eindruck vermeidet, der Jazz sei direkt vom Big Easy nach Chicago gesprungen und habe sonstwo keine Spuren hinterlassen. Dieser Teil ist der lehrreichste des ganzen Buchs, selbst für Leute, die glauben, schon alles zu wissen.

Der zweite bemerkenswerte Akzent ist eine relative Aufwertung einer Handvoll Innovatoren im Verhältnis zu John Coltrane – was keineswegs dessen Abwertung bedeutet. Aber Shipton bemüht sich erfreulicherweise Musiker wie Charlie Mingus, Ornette Coleman, Eric Dolphy, Steve Lacy, Sonny Rollins, Wayne Shorter, die AACM & Co. aus dem Status der 1b-Kategorie herauszuholen. Dazu blickt er dito erfreulicher- und für einen grundsätzlich anglo-zentrierten Point-of-view ungewöhnlicherweise nach Europa (das es z.B. bei Burns/Ward überhaupt nicht zu geben scheint).

Allerdings ist es wie verhext: Wo Scheuklappen beseitigt werden, da tun sich neue auf. Sind die Kapitel über Afrika und Indien wenigstens noch mit etlicher Substanz versehen (wenn auch arg geizig), so übersieht Shipton den latin tinge des Jazz total. Und zwar von den frühesten Anfängen an, als diese Färbung direkt in den Kernbereich des Jazz in allen seinen Spielarten eingespeist und damit konstitutiv geworden ist. Als auch in den wichtigen Beiträgen lateinamerikanischer Musiker, ohne die gerade der zeitgenössische Jazz ein anderer, vermutlich langweiligerer und ärmerer wäre. Dass John Storm Roberts` Grundlagenwerk zum Thema („The Latin Tinge“) auch in der Bibliographie fehlt, ist ein sehr beredtes und ärgerliches Detail.

Anyway, natürlich kann eine Jazz-Geschichte unter 300 Bänden keinen Vollständigkeitsforderungen gerecht werden, irgendwo findet man immer Löcher, Lücken und Desiderate. Also gewöhnen wir uns halt daran, dass wir uns unsere Geschichte des Jazz kumulativ zusammenklambüsern müssen. Alyn Shiptons „New History of Jazz“ ist dafür wenigstens nicht überflüssig, sondern sinnvoll und nützlich.

Thomas Wörtche

Alyn Shipton: A New History of Jazz. London/New York: Bayou Press 2001 (Paperback: Continuum 2002) 965 Seiten, $ 19,95