Geschrieben am 14. März 2004 von für Bücher, Musikmag

Richard Cook: Blue Note. Die Biographie

Dialektik von Markt und Qualität

„Blue Note. Die Biographie“ ist ein zentrales Stück Jazzgeschichte, also Musikgeschichte, also Kunstgeschichte, also Geistesgeschichte, also Zeitgeschichte.

Man kann nie genug lernen. Selbst wenn man sich nun seit ungefähr 30 Jahren intensiv mit Jazz beschäftigt hat und glaubte, gerade über Blue Note Records, über die beiden Berliner Emigranten Alfred Lion und Frank Wolff, über den genialen Tonmeister Rudy Van Gelder und den Designer Miles K. Reid so ziemlich alles irgendwann mal mitgekriegt zu haben, ja, selbst dann ist die Lektüre von „Blue Note. Die Biographie“ des britischen Jazz-Kritikers (und Herausgebers der „Jazz Review“) Richard Cook keinesfalls überflüssig.

Cook zeichnet minutiös seit der ersten Blue-Note-Session vom 6. Januar 1939 bis zum überraschenden Mega-Erfolg von Norah Jones heute die Auf und Abs des Labels nach. Also von Albert Ammons und Pete Johnson bis zum familienkompatibeln easy listening, das wiederum Musiker wie Greg Osby oder Don Byron ernährt. Diese Dialektik zwischen ökonomischer Notwendigkeit und künstlerischer Qualität ist das zentrale Thema von Cooks Studie. Dafür wählt er den eher spröden Weg. Er hangelt sich, ohne allzuviel anekdotisches Beiwerk, kommentierend von Session zu Session – zumindest den wichtigen. Von den Anfängen im Zuge des Trad-Revivals Ende der 30er und Anfang der 40er Jahre, über die Bebop-Zeiten hin zum Hardbop, der dann sozusagen die kanonische Blue-Note-Ära war. Als Alfred Lion am 18. Juli 1967 seine letzte Session (ein ziemlich schauderhaftes Mischmasch von Stanley Turrentine) leitete, hatte Blue Note den Bogen von Sidney Bechet bis Cecil Taylor geschlagen und präsentierte sozusagen des Herz des Jazz. Mit Klassikern der allerersten Garnitur – Thelonious Monk, John Coltrane, Clifford Brown, Eric Dolphy, Bud Powell, Art Blakey, Lee Morgan, Horace Silver, Miles Davis, Fats Navarro etc. etc., -, wunderbaren, aber nie groß herausgekommenen Musikern wie Jutta Hipp, Elmo Hope, Herbie Nichols, Harold „Tina“ Brooks, Don Wilkerson – und einem ganzen Rudel verlässlicher, zwischen brillant und routiniert schwankender Schlachtrösser mit Verkaufserfolgsquotient wie Ike Quebec (der auch als A&R-Mann für die Firma wirkte), Lou Donaldson, Jackie McLean, Jimmy Smith, Hank Mobley und anderen.

Wie Blue Note zum Qualitätslabel werden konnte – sorgfältig vorbereitete Sessions, kluge Kombination von Musikern, Treue zu den Künstlern auch in mageren Zeiten, Sorgfalt bei der Aufnahmequalität, graphische Präsentation. Selbstausbeutung der Macher, keine Angst vor Experimenten, auch wenn die manchmal schiefgehen konnten, das Erkennen von Qualität auch wider den Zeitgeist und wider „den Markt“ (was am Ende unsterbliche Platten wie „Blue Trane“ von Coltrane, „Somethin´Else“ von Cannonball Adderley oder „Newk`s Time“ von Sonny Rollins hervorbringen konnte) – das alles zeichnet Cooks Arbeit akribisch nach. Und macht sie auch zu einem Handbuch dafür, wie man als Independent Label überleben kann – übrigens egal, in welcher Branche. Freilich, am Ende wurde auch Blue Note geschluckt, musste Kompromisse machen, die sich naseweise Marketing-Leute ausgedacht hatten und schauderhaftes Zeug produzieren. Aber als Bruce Lundvall 1984 den Laden übernahm, erwies sich, dass das von Lion und Wolff gehortete Tafelsilber der unabhängigen Jahre einen guten ökonomischen Grundstock bot, um darauf neue Erfolge zu bauen.

Ein weiterer Vorzug von Cooks Methode ist, dass er keine Hagiographie geschrieben hat. Natürlich sieht und sagt er, dass Blue Note nicht das einzige Qualitätslabel für Jazz war; Prestige, ESP, Columbia, Riverside oder Atlantic sind auch in seiner Darstellung keine tumben Nobodies, und er scheut sich genauso wenig, misslungene oder belanglose Sessions als genau das zu bezeichnen. Manchmal haben seine Einschätzungen von Musikern schon fast die Tendenz, heilige Kühe zu schlachten (Donald Byrd z.B. wird nicht gerade mit Glacéhandschuhen angefasst, dito der spätere Bobby Hutchinson), aber das ist okay so, ein wenig Reibungsfläche darf schon sein. Dafür bricht er aber Lanzen für notorisch unterbewertete Musiker wie Herbie Nichols etwa oder den völlig vergessenen Trompeter Alphonso Reece.

Aus all diesen Gründen ist Cook ein musikhistorisches Standardwerk gelungen. Unverzichtbar für Menschen, die anfangen sich für Jazz zu interessieren, unverzichtbar für Spezialisten, die über Details Bescheid wissen wollen und eine Art Zeitreise für Leute, die schon immer mit dieser seltsamen Musik leben. Das Unangenehme am Jazz, sagt Cook einmal, ist der Umstand, dass er umso weniger Leuten wirklich gefällt, je besser er ist. Daraus keine elitäre Haltung zu machen, das ist Cook hervorragend gelungen.

„Blue Note. Die Biographie“ ist ein zentrales Stück Jazzgeschichte, also Musikgeschichte, also Kunstgeschichte, also Geistesgeschichte, also Zeitgeschichte. Und eine ganz wichtige Studie über die Dialektik von Markt und Qualität und insofern weit über den Spezialfall Jazz hinaus relevant.

PS: Nicht schön ist, dass die deutsche Ausgabe kein Register hat, die Diskographie nur die Jahre 1951 – 1967 berücksichtigt (auch wenn das in der O-Ausgabe so sein mag; das diskographische Standardwerk „The Blue Note Label“ von Michael Cuscuna/Michel Ruppli, 2001, gibt es nicht auf deutsch), dass der ungemeine erfolgreiche Film „Blue Note – A Story of Modern Jazz“ von Julian Benedikt, 1996, nirgends erwähnt wird, und dass überhaupt keine Bibliographie ausserhalb der spärlichen Fußnoten beigefügt ist.

Thomas Wörtche

Richard Cook: Blue Note. Die Biographie. (Blue Note Records. The Biography, 2001). Dt. von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck. Berlin: Argon Verlag, 2004. 303 Seiten, 24,80 Euro. ISBN: 3870245999 .