Vom Leben und Schreiben
75 Jahre alt wurde Christa Wolf am 18. März 2004 – Grund genug für den Luchterhand Literaturverlag, „seine“ Groß-Autorin mit einer umfangreichen Bild-Biographie zu würdigen. Von Petra Vesper
Das Biographieprojekt macht Sinn, schließlich sind bei Christa Wolf Leben und Schreiben, Politik und Privates, Familie und Gesellschaft stets untrennbar miteinander verknüpft: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß Schreiben und Leben im Grundsätzlichen auseinanderklaffen. Ich möchte mir nicht denken, daß man als Autor eine bestimmte Moral vertritt, ja moralisiert (was ich, zugegeben, tue) und als Mensch dieser Moral absolut entgegenlebt.“
Das Geschenk des Verlags an die wahrscheinlich bedeutendste deutschsprachige Prosaautorin der Gegenwart ist gleichzeitig auch ein Geschenk an all ihre langjährigen treuen Leser. Als Einstieg zu einer Entdeckungsreise durch die literarische Welt Christa Wolfs ist der großformatige Band jedoch nicht zu empfehlen. Denn entgegen der Erwartung, die der Titel schürt, stehen die Texte Christa Wolfs hier deutlich im Schatten der Fotografien.
Texte im Schatten der Fotografien
Für Herausgeber Peter Böthig – der Familie Wolf seit längerem verbunden – hat Christa Wolf ihr ganz privates Fotoalbum geöffnet. Ans Tageslicht gekommen sind dabei all jene ganz normalen Banalitäten, die sich in jedem Familienalbum finden – Taufe, Klassenfoto, Konfirmation, Verlobung, Hochzeit –, dazu entspannte Familienfotos mit Kindern, Enkeln und Freunden, auch solche Bilder, die ein ganz unerwartetes Schlaglicht auf die Schriftstellerfigur Christa Wolf werfen. Das ist umso erstaunlicher, da Christa Wolf – wie nur wenige ihrer Schriftstellerkollegen – stets eine öffentliche Figur, sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik, war und als Projektionsfigur ganz unterschiedlicher Interessen diente. Gerade das ist das große Verdienst der Biographie Böthigs: Sie eröffnet neue Blickwinkel auf vermeintlich Bekanntes.
Wir sehen Fotos der jungen Christa Wolf als Studentin, 21-, 23-jährig: Eine streng und ernst, fast verkniffen blickende junge Frau, seltsam alt wirkend, und ohne eine Spur jugendlicher Leichtigkeit. Die beigefügten Textausschnitte – mal aus Interviews oder Briefen, mal aus Christa Wolfs literarischen oder essayistischen Arbeiten, schlagen Brücken zu den Fotos, geben mögliche Erklärungen oder führen über das hinaus, was Bilder sagen können: „… Als wir sechzehn waren, konnten wir uns mit niemandem identifizieren … Uns wurde dann ein verlockendes Angebot gemacht: Ihr könnt, hieß es, eure mögliche, noch nicht verwirklichte Teilhabe an dieser nationalen Schuld loswerden oder abtragen, indem ihr aktiv am Aufbau der neuen Gesellschaft teilnehmt … Und an die Stelle des monströsen Wahnsystems, mit dem man unser Denken vergiftet hatte, trat ein Denkmodell mit dem Anspruch, die Widersprüche der Realität nicht zu verleugnen und zu verzerren, sondern adäquat widerzuspiegeln.“ Christa Wolf trat 1949, im Jahr ihres Abiturs, in die SED ein.
Neuer Blick auf vermeintlich Bekanntes
Schon als junge Schriftstellerin trifft Christa Wolf – auch dank ihrer Arbeit für den Schriftstellerverband der DDR – renommierte Kollegen, große Vorbilder allesamt: Ikonen der antifaschistischen Literatur wie Stefan Hermlin, Erwin Strittmatter oder Anna Seghers. Der übergroße Respekt, die Bewunderung und die Ernsthaftigkeit der jungen Autorin sprechen aus all diesen Fotos. Und doch ist dort auch schon jener nagende Zweifel, den Ansprüchen – eigenen oder äußeren – nicht gerecht werden zu können: „Allerdings war ich noch nicht dreißig, als ich Cheflektorin beim Verlag ‚Neues Leben‘ wurde, und dies war eine Verantwortung, der ich mich nicht gewachsen fühlte … es ist mein Naturell, eine solche Kluft zwischen Anspruch und Leistung nicht lange ertragen zu können, mein Körper wehrt sich notfalls mit Krankheit. Damals allerdings ‚wählte‘ ich einen typisch weiblichen Ausweg: Ich bekam mein zweites Kind.“ Eine fröhliche, unangestrengte Christa Wolf präsentieren in erster Linie die Familienfotos, die sie als Mutter oder – noch später – als Großmutter zeigen – eine Seite Christa Wolfs, die allzu oft hinter der öffentlichen Figur zurücktreten musste.
Böthig ordnet die Fotos und Dokumente chronologisch, setzt sie in Beziehung zu den Büchern Christa Wolfs. Und so hat der Leser die Möglichkeit, sowohl die persönliche als auch die literarische Entwicklung der Schriftstellerin nachzuvollziehen – die Entwicklung von der überzeugten Sozialistin, die im VEB Wagonbau Ammendorf recherchiert, hin zu einer immer selbstbewussteren Autorin, für die das Ich immer mehr in den Mittelpunkt rückt und für die die Kluft zwischen dem Ich und der Gesellschaft zum Thema ihrer Recherche wird. Von Der geteilte Himmel bis zu Nachdenken über Christa T. ist es ein weiter Weg. Leben, um zu schreiben; schreiben, um schreibend sich selbst zu erkennen; schreiben aber auch, um Widersprüche in der Gesellschaft zu benennen: Christa Wolf geht diesen Weg weiter. „Subjektive Authentizität“ wird zum neuen Etikett für die Arbeiten, die in dieser Zeit entstehen: Kindheitsmuster, Kassandra – sie wird zu einer Symbolfigur im Westen wie im Osten: „Ich habe dieses Land geliebt. Daß es am Ende war, wußte ich, weil es die besten Leute nicht mehr integrieren konnte, weil es Menschenopfer forderte. Ich habe das in ‚Kassandra‘ beschrieben … ich wartete gespannt, ob sie es wagen würden, die Botschaft der Erzählung zu verstehen, nämlich, daß Troja untergehen muß. Sie haben es nicht gewagt und die Erzählung ungekürzt gedruckt. Die Leser in der DDR verstanden sie.“
Wachsende Kluft zwischen Ich und Gesellschaft
Dieser Weg führt Christa Wolf schließlich auf den Alexanderplatz – natürlich darf jene berühmte Szene, jenes Stück kollektive Erinnerung an die Wendezeit, nicht fehlen in diesem Buch: Die machtvolle Demonstration von über 500.000 Menschen am 4. November 1989, bei der auch Christa Wolf am Mikrophon steht: „Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei von den Lippen. Wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben, und was wir jetzt laut zurufen: Demokratie – jetzt oder nie!“
Und auch Niederlagen und persönliche Verletzungen haben ihren Platz: Die Ausbürgerung von Wolf Biermann und der Protest dagegen von Christa und Gerhard Wolf und vielen anderen Intellektuellen der DDR, die Debatte um die Stasi-Verstrickungen des Paares und Christa Wolfs Buch Was bleibt Anfang der 90er Jahre. In dem Gedicht Das Prinzip Hoffnung schreibt Christa Wolf dazu: „Angenagelt / ans Kreuz Vergangenheit, / Jede Bewegung / treibt / die Nägel ins Fleisch.“
Peter Böthigs Bilderbogen führt bis in die Gegenwart – und was dort bleibt, das ist ein versöhnliches Schlussbild. Spätestens mit Leibhaftig und Ein Tag im Jahr ist Christa Wolf wieder in der vordersten Riege deutschsprachiger Gegenwartsautoren angekommen. Sie wird gelesen, gehört, geehrt (u. a. 2002 mit dem Deutschen Bücherpreis für ihr Lebenswerk) und gefeiert – der 75. Geburtstag bietet dazu neuen Anlass. „Schreiben ist einfach meine Existenzform. Ich würde ja auch schreiben, wenn niemand das drucken wollte, wenn ich kein Publikum hätte …“, sagt Christa Wolf. Sie könnte ihren Lesern kein schöneres Geburtstagsgeschenk machen.
Petra Vesper
Peter Böthig (Hg.): Christa Wolf. Eine Biographie in Bildern und Texten. Luchterhand Literaturverlag 2004, 216 Seiten, 35 Euro. ISBN: 3-630-87169-0
22.03.2004