Geschrieben am 3. August 2011 von für Kolumnen und Themen, Litmag, Sachen machen

Sachen machen: Fliegen

Über dem Meer

– Isabel Bogdan begibt sich für CULTurMAG ins Handgemenge mit den Dingen und probiert skurrile, abseitige und ganz normale Sachen aus. Zum Beispiel Fliegen.

Viele Menschen träumen vom Fliegen. Ich nicht, ich träume vom Schwimmen, genauer gesagt: Ich träume, dass ich unter Wasser atmen kann. Das träume ich nun schon so lange immer mal wieder, dass ich manchmal Angst habe, in einem unbedachten Moment tatsächlich unter Wasser den Mund aufzumachen und kräftig einzuatmen; ich habe ja oft genug erlebt, dass es funktioniert. Vom Fliegen habe ich noch nie geträumt.

Als wir aber im Urlaub vom Auto aus irgendwo sehen, wie jemand am Fallschirm hoch oben in der Luft hinter einem Boot hergezogen wird, zeige ich mit dem Finger hin und rufe: „Da! Guck! Da! Will auch! Fliegen! Fallschirm! Boot! Will!“, und werde zappelig wie ein kleines Kind. So was tue ich nicht oft, und weil mein Mann ein kluger und nachsichtiger Mann ist, fahren wir gleich an den entsprechenden Strand, marschieren schnurstracks zur „Fun Sports“-Bude, stellen fest, dass man sogar zu zweit an einem Schirm fliegen kann, fragen, ob wir, und wann, und die Dame sagt: jetzt sofort.

Da ist nicht mehr viel Nachdenken möglich, alles geht so schnell, wir haben nicht mal die Gelegenheit, uns einen Start und eine Landung anzugucken. Okay, ich gebe es zu: Ich habe das schon einmal gemacht. Vor genau 23 Jahren, rein zufällig ebenfalls auf Korfu. Damals hieß es Paragliding, diesmal nennen sie es Parakiting. Die Terminologie ist mir allerdings einigermaßen wurscht, ich will das machen und weiß auch so halbwegs, was auf uns zukommt.

Wir werden mit dem Boot zur Startplattform gefahren. Dort liegt schon alles bereit, ich steige in das vorne liegende Gurtzeug, rechtes Bein hier, linkes Bein dort, hochziehen, hintenrum über die Schultern, jemand assistiert mir, bitte hier festhalten, er schließt ein paar Schnallen, hakt Karabiner ein und zurrt alles fest. Dann mein Mann hinter mir. Wir sollen den rechten Fuß nach vorne und den linken nach hinten stellen, damit wir beim Loslaufen nicht übereinanderfallen, sondern mit dem gleichen Fuß anfangen. Und wir sollen das Gurtzeug rechts und links so hoch wie möglich halten. Ich werde vorne an die lange Leine gehakt, hinten am Mann hängt der Fallschirm, alles geht so schnell, keine Zeit zum Nachdenken. Wir sind fest in den Gurten installiert, da fährt das Boot auch schon los, und dann schießt mir ganz plötzlich und mit voller Wucht das Adrenalin durch die Adern. Vor mir auf der Plattform liegt die lange, lange Leine in lauter Schlaufen und Kurven und Mäandern, das Boot fährt von uns weg, ich sehe, wie die Leine sich immer weiter abrollt, ribbel-ribbel, ich bekomme Herzklopfen, und kurz bevor ich weiche Knie kriege, ist die Leine zu Ende, das Boot zieht jetzt an mir, ich laufe los – keine Ahnung, mit welchem Fuß, keine Zeit für weiche Knie, wir laufen, so schnell das Boot uns zieht, ich denke nicht daran, dass ich das Gurtzeug hochhalten soll, ich denke nicht daran, dass ich am Ende der Plattform weder springen noch „mich setzen“ soll, sondern einfach weiterlaufen, ich denke nicht daran, ob hinter mir der Mann womöglich über meine Füße fällt, ich lasse mich einfach ziehen und laufe mit, bis die Plattform zu Ende ist und ich ins Leere laufe, da gibt es einen Ruck und – der Fallschirm trägt uns. Natürlich trägt er uns, wir werden höher und höher gezogen, und … wow.

Das Adrenalin verteilt sich, kaum noch zu spüren, ich habe sofort Vertrauen in das System. Ich merke ja, dass der Fallschirm uns trägt und das Boot uns zieht, wir werden von zwei Seiten gehalten. Das einzige, was passieren könnte, wäre, dass das Seil reißt, dann würden wir halt langsam am Schirm ins Wasser sinken. Aber das sagt nur mein Kopf, mein Gefühl hat Vertrauen, es wird nichts passieren, es ist total toll. Es ist, genauer gesagt, unfassbar, unglaublich, unbegreiflich toll. Es ist herzerwärmend sensationell supertoll, ich verdrücke tatsächlich ein Tränchen, weil es so umwerfend und ergreifend schön ist.

Ich weiß nicht, wie das Meer das macht. Das Meer macht mich quasi auf Knopfdruck glücklich. Meer – zack!, glücklich. Sollte ich jemals von einem Ungemach irgendwo zwischen schlechter Laune und Depressionen befallen werden, schafft mich ans Meer, notfalls auch an einen See oder Fluss. Der zweite Glücklichmacher ist die Sonne, genauso zuverlässig. Und hier schweben wir also, der beste Ehemann von allen und ich, über dem knallblauen Meer unter dem knallblauen Himmel und können durch das klare, glitzernde Wasser fast bis auf den Grund sehen, und sehen auf Korfu, diese unglaublich grüne Insel, und über Korfu hinweg bis nach Albanien, und das Meer glitzert und lockt, und der Himmel ist blau, und wir schweben, und es ist wie im Traum. Wie im Traum vom Fliegen und im Traum vom Meer gleichzeitig. Oben blau, unten blau, dazwischen die grüne Insel, ich kann mich gar nicht sattsehen.

Wenn ich nur nicht so unbequem hängen würde. Der Mann hat sich irgendwie zurechtgeruckelt, ich hänge ein bisschen vornüber, könnte deutlich besser in dem Gurtzeug sitzen, wenn ich ein bisschen nach hinten rücken könnte, aber ich kriege es nicht hin, zu schwache Armmuskeln, dafür müsste ich nämlich kurz mal mein eigenes Gewicht anheben, mich am Gurtzeug festhalten, um nach hinten zu rutschen. So hänge ich also vornüber und verkrampfe langsam ein bisschen, beschließe aber, das als Bauch-Beine-Po-Gymnastik zu betrachten und es ansonsten zu ignorieren. Denn das ist alles viel zu schön, um über unbequemes Sitzen auch nur nachzudenken.

Ich drehe mich lieber um und strahle den Mann an und sehe den knallbunten Fallschirm über uns, und dann gucke ich wieder runter und versuche, im Meer Fische zu erkennen, aber ich sehe keine. Wir sind ziemlich hoch, die Leine zwischen Boot und Fallschirm ist hundert Meter lang, je nach Wind schwebt man damit auf 60-80 m Höhe. Allerhöchstens 90 m. Jetzt allerdings sinken wir ab, wir fahren eine Kurve, die Seil-Spannung lässt nach, wir sinken und sinken, was wird das, versucht er, uns mit den Füßen eintauchen zu lassen? Klappt nicht ganz, das Boot zieht wieder an, wir steigen wieder, drehen eine große Runde durch die Bucht, und mir verkrampfen jetzt wirklich Bauch-Beine-Po, ich versuche noch mal, mich zurechtzusetzen.

Nach viel zu kurzer Zeit verlangsamt das Boot wieder, und wir sinken ab. Wie, schon Schluss? Das kann doch nicht sein! Viel zu kurz! Ich will noch mehr Meer von oben, noch mehr Blau! Andererseits, ich bin schon ganz verkrampft, weil ich so blöd hänge. Aber! Ich will noch nicht! Ich will noch weiter! Das soll nicht aufhören! Da treffen meine Füße schon ins Wasser, es spritzt, der Bootsfahrer zieht nochmal kurz an, wir gehen noch einmal ein bisschen hoch, und dann sinken wir wieder, es spritzt noch einmal, und dann macht es platsch, und wir landen im Wasser. Etwas unsanfter als erwartet.

Unter Wasser atme ich nicht versehentlich ein.

Wir haken die Karabiner aus der Fallschirmleine aus und schwimmen ein bisschen ungelenk im Gurtzeug zum Boot zurück. Tatsächlich habe ich bei der Landung einen solchen Schlag in den Rücken bekommen, dass ich mich ein paar Tage nur vorsichtig bewegen kann. Aber das war es wert. Vielleicht fange ich ja doch noch an, vom Fliegen zu träumen. Vom Fliegen über dem Meer.

Isabel Bogdan

Isabel Bogdan übersetzt seit 10 Jahren Literatur aus dem Englischen (u. a. Jonathan Safran Foer, Miranda July, ZZ Packer, Tamar Yellin, Andrew Taylor). Sie lebt und arbeitet in Hamburg. Zum Blog von Isabel Bogdan.