Geschrieben am 21. Januar 2007 von für Bücher, Litmag

Isabel Allende: Mein erfundenes Land

Erinnerungen und Erfindungen

„Mein erfundenes Land“ ist ein höchst kurzweiliges und mindestens ebenso amüsantes Buch, das viel über Chile erzählt, aber noch mehr über Isabel Allende selbst. Von Petra Vesper

„Die Erinnerung ist ein Labyrinth, in dem Minotauren lauern.“ In die verschlungenen Pfade ihrer eigenen Biographie taucht Isabel Allende mit ihrem neuesten Buch ab – und verknüpft diese mit der Geschichte ihres Geburtslandes Chile. Heraus gekommen ist keine Autobiographie im eigentlichen Sinne, sondern eine Hommage an ihre „Heimat“, gemischt aus Fakten und Fiktion: „Heimat“ ist kein Ort, der auf irgendeiner Landkarte verzeichnet wäre, sondern ein „Ort in meinem Kopf“. Schon als Jugendliche hat Isabel Allende eine gewisse Heimatlosigkeit und das Gefühl des Fremdseins erfahren, da sie mit ihrem Stiefvater, einem Diplomaten, viel Zeit im Ausland verbrachte. Später, nach dem Militärputsch 1973, musste sie das Land zwangsweise verlasen und lebte im Exil – inzwischen wohnt sie mit ihrem zweiten Ehemann in Kalifornien. „Heimat“ ist daher für Allende nichts mehr und nichts weniger als die Literatur selbst: Jene Mischung aus Erinnertem und Erfundenem, Erlebtem und Gehörtem, aus der sich ihr Schreiben schöpft. Chile, ihr Heimatland, ist der Ort, an dem die Erinnerungen und Erfindungen zusammenlaufen. Das wirkliche Chile, das hat sie bei ihren zahlreichen Besuchen nach Ende der Pinochet-Diktatur erfahren, hat wenig mit „ihrem“ Chile zu tun. Das Chile der Isabel Allende, das sie in ihren Romanen immer wieder thematisiert, ist in der Tat ein „erfundenes Land“. Sie selbst begreift sich heute in erster Linie als „Amerikanerin“ – und aus diesem ambivalenten Gefühl speist sich ihr Schreiben: Es sei – motiviert durch ihr Gefühl von Heimweh, laut Wörterbuch eine große Sehnsucht nach der fernen Heimat – „eine beständige Übung der Sehnsucht“.

Zurück ins „große Eckhaus“

Nachdem Isabel Allende sich in ihren letzten Romanen eher glücklos am Genre der phantastischen Jugendliteratur (Aguila-und-Jaguar-Trilogie) versucht und sich in den Untiefen der Unterhaltungsliteratur (Zorro) verfangen hat, kehrt sie mit Mein erfundenes Land dorthin zurück, wo ihr literarischer Weltruhm begann: In jenes „große Eckhaus“, das sie selbst zwar nie gesehen hat, aber von dem ihr der Großvater stets erzählte und in dem ihre Mutter geboren wurde. Das Haus spielt die Hauptrolle in ihrem ersten Roman Das Geisterhaus und ist dort das Domizil der Sippe der Truebas. „Die fiktive Familie gleicht in alarmierender Weise der Familie meiner Mutter – solche Figuren hätte ich nicht erfinden können. Was ja auch nicht nötig war, denn wer eine Familie wie die meine hat, der braucht keine Phantasie.“ Tatsächlich entdecken erfahrene Allende-Leser eine Vielzahl von Figuren wieder, die sie bereits aus dem „Geisterhaus“ kennen: eine Großmutter mit telepathischen Fähigkeiten, eine Großtante, die „der Heiligkeit entgegen“ strebte und im Alter von 100 Jahren in ein Kloster eintreten will, ein o­nkel, der auf der Straße seine Hose auszieht, um sie einem Mittellosen zu schenken.

Humor und Liebe

Allendes Buch hat einen stark anekdotischen Charakter, um Chronologie schert sie sich nicht und auch die Eckdaten ihrer eigenen Biographie werden nur punktuell angerissen. Augenfällig ist der Humor, der das ganze Buch durchzieht: Er äußert sich zum Beispiel in einer höchst sympathischen Form von Selbstironie, wenn sie etwa darüber schreibt, an wie wenig sie sich erinnert, wenn sie mit ihrer Mutter in alten Fotoalben der Familie blättert. Einzig an eine Bullterrier-Hündin mit dem recht exaltierten Namen Pelvina-López-Pun könne sie sich erinnern – und auch das nur, weil der Hund und sie selbst einander sehr ähnlich gesehen hätten: „Auf einem Foto von uns beiden … musste meine Mutter mit einem Pfeil markieren, wer wer ist.“ Aber auch in der Beschreibung ihrer Landsleute, der Chilenen, ist dieser Humor deutlich erkennbar. Allende schreckt nicht vor Stereotypen, Klischees und Verallgemeinerungen zurück – nur um sie dann gleich wieder zu relativieren. So werde etwa jedem Ausländer, der ins Land komme, sofort beschieden, dass „unsere Frauen die Schönsten der Welt sind, unsere Fahne einen mysteriösen internationalen Wettbewerb gewonnen hat und unser Klima idyllisch ist. Urteilen Sie selbst: Unsere Fahne sieht fast so aus wie die texanische, und bemerkenswert an unserem Klima ist vor allem, dass es während Dürreperioden im Norden mit Sicherheit im Süden Überschwemmungen gibt.“ Und was die Frauen angeht: In ihrer langjährigen Arbeit für eine chilenische Frauenzeitschrift habe sie mitbekommen, so berichtet Isabel Allende, dass die Kandidatinnen der alljährlichen Misswahlen stets aussahen wie ausländische Touristinnen, während die typische Chilenin, der man auf der Straße begegne, Mestizin sei: „dunkelhäutig und klein“. Ein weiteres Beispiel für ihren Umgang mit Gemeinplätzen: Wie sie von der Vorliebe der Chilenen für Regeln erzählt, die sich vor allem in einem ausufernden Bürokratie-Wesen manifestiere. Inzwischen habe die Regierung sogar ein Büro zur Bekämpfung der Bürokratie eingerichtet, an das sich jeder Bürger mit seinen Beschwerden wenden könne: „Kafka war ein Chilene“. Vor allem aber durchzieht ein tiefes Gefühl von Liebe dieses Buch: Liebe zu ihrer Familie, Liebe zu Chile und seinen Menschen und Liebe zu ihrem Ehemann, der stellvertretend für ihr neues Zuhause steht.

“Das erfundene Land, in dem ich leben“

Mein erfundenes Land ist ein höchst kurzweiliges und mindestens ebenso amüsantes Buch, das viel über Chile erzählt, aber noch mehr über Isabel Allende selbst: „… ich neige zum Übertreiben und kann … nicht objektiv sein, wenn es um Chile geht; na, sagen wir besser, ich kann fast nie objektiv sein.“ Man muss kein eingefleischter Allende-Leser sein, um seinen Spaß an diesem Buch zu haben – trotzdem bereitet es Kennern natürlich besonderes Vergnügen, nach Parallelen zwischen Leben und Literatur zu suchen: zahlreiche Fährten sind hier gelegt. Und noch eines sollte nicht verschwiegen werden: Für Chile-Kenner ist vielleicht vieles von dem, was Allende in Mein erfundenes Land schildert, ein alter Hut – allen anderen aber macht dieses Buch enorme Lust, dieses seltsame, spröde und doch so faszinierende Land kennen zu lernen. Vor allem aber ist Mein erfundenes Land ein Buch über das Schreiben – und ein Buch über Allendes Selbstverständnis: Sie sei Schriftstellerin, so schreibt Allende „weil ich mit einem guten Ohr für Geschichten zur Welt kam und mit einer exzentrischen Familie und dem Los einer umherschweifenden Pilgerin gesegnet bin. Das Schreiben hat mir Gestalt gegeben: Wort für Wort habe ich die Person erschaffen, die ich bin, und das erfundene Land, in dem ich lebe.“

Petra Vesper

Isabel Allende: Mein erfundenes Land. Deutsch von Svenja Becker. Suhrkamp 2006.
204 Seiten. 16,80 Euro.