Geschrieben am 22. März 2008 von für Bücher, Crimemag

Lee Child: Sniper

Der reine Suchtstoff

Am Anfang ist alles ganz einfach: In einer Provinzstadt in Indiana bezieht ein Heckenschütze Stellung in einem Parkhaus und beginnt, auf Passanten zu feuern. Von Thomas Wörtche

Das ist schlimm, erstaunt aber in den USA heutzutage niemanden mehr. Die bewaffnete Gesellschaft fordert und bekommt ihre Opfer. Genauso einfach scheint es zu sein, durch kompetente Polizeiarbeit den Schützen zu identifizieren und festzusetzen. Natürlich viel zu einfach, denn wir befinden uns im letzten auf Deutsch erschienenen Roman von Lee Child Sniper.

Der britische Schriftsteller Lee Child, der extrem amerikanisch wirkt und seine Hauptfigur, den Ex-US-Militärpolizisten Jack Reacher als autonomen Vigilanten in nunmehr zwölf Romanen durch die Provinzen der USA marodieren lässt, gehört zu der Hand voll Schriftstellerinnen und Schriftstellern auf dieser Welt, die aus formula fiction eine Kunstform gemacht haben, die geeignet ist, grundsätzlich über die Kriterien von Literatur und Literarizität nachzudenken, und zwar nicht, weil es sich dabei plötzlich um „literarische Kriminalromane“ handeln würde – ein in letzter Zeit bis ins Delir strapazierter Dumpfkopfbegriff – und auch nicht um „Mehr-als-ein-Kriminalroman“-Romane, sondern selbstverständlich um formula fiction der grandiosen Art. Im Grunde hat Ekkehard Knörer alles über Childs Reacher-Romane, über ihre Beziehung zur abstrakten Malerei, ihren Umgang mit der Lebenswelt von heute und ihre anderen erkenntnistheoretischen Dimensionen gesagt (Sie finden seinen Essay Der Held, der krumme Linien macht im Krimijahrbuch 2007, hg. von C. Bacher u. a. erschienen im NordPark Verlag).

Nebel von Desinformation und Gegenaufklärung

Deswegen zu Sniper nur noch ein paar Ergänzungen: Child spielt gewohnt souverän mit der klugen, kalten Mechanik von action – gemäß dem poetologischen Grundsatz, dass man mit der Schilderung von action und dem Agieren von Menschen, dem Agens und Reagens von sozialen Beziehungen sozusagen, „kinetische“ Evidenzen schaffen kann. Das ist ganz außerordentlich vergnüglich, weil die ganze pseudo-psychologische Tiefengründelei der angeblich Hohen Literatur suspendiert ist.

In Sniper geht Child von der oben geschilderten einfachen Situation aus, die er dann zusehends verkompliziert – je mehr Details bedacht werden, desto unklarer wird die Situation. Damit dreht Child die Ideologie aller C.S.I.-Formate um: Forensik, Kriminaltechnologie, superhypereffiziente Polizeiarbeit, all das schafft eher einen Nebel von Desinformation und Gegenaufklärung, den zu werfen Child einen Höllenspaß hat. Und dito, ihn wieder durch die klare Luft der denkerischen ratio wegzupusten und die Dinge auf das zu reduzieren, was sie sind: auf ein Terrain der gewaltsatten Auseinandersetzung der inzwischen herauskristallisierten Positionen. So ganz nebenbei flicht Child dann noch ein kleines Lehrstück über Medien ein (nein, nicht „medienkritisch“ oder „selbst reflektierend“ oder wie die Billigformeln hier gerade heißen, sondern intelligent …) und über die Mechanismen, wie selbst der ideologische Feind von damals den Kapitalismus von heute profitträchtig dereguliert bekommt. Und wem das alles viel zu kompliziert ist, der freut sich einfach an der action, an Reachers coolem Wesen, den schicken Mädels, den kleinen, fiesen, präzisen und gemeinen Beobachtungen über das Leben in den USA today, dem flow und dem groove des Erzählens – der reine Suchtstoff.

Thomas Wörtche

Lee Child: Sniper (One Shot, 2005). Roman. Ins Deutsche von Wulf Bergner. Blanvalet 2008. 477 Seiten. 19,95 Euro.