Geschrieben am 5. Mai 2008 von für Bücher, Litmag

Miranda July: Zehn Wahrheiten

Verloren am Rand rumstehen

Der Begriff „Stellenliteratur“ bezeichnet ja eigentlich Werke, die ausschließlich ihrer sexuell expliziten Szenen wegen durchblättert werden. Die Leser von „Stellenliteratur“ hangeln sich, Inhalt und Struktur vollkommen missachtend, einzig des Effekts wegen von Stelle zu Stelle; das Drumherum ist ihnen ebenso lästig wie die Handlung bei Pornofilmen.

In gewisser Weise schreibt auch Miranda July „Stellenliteratur“, allerdings nicht für Teenager mit heißen Ohren, sondern für beziehungsgeschädigte Großstädter: Leute zwischen Sex and the City und Paartherapie, zwischen Woody Allen und Bridget Jones, die allesamt Julys wundervollem ersten Spielfilm „Ich und du und alle, die wir kennen“ entsprungen sein könnten und die man sich automatisch genauso vorstellt wie Miranda July selbst: Eine Außerirdische, halb Elf, halb Reh, ein androgynes Fabelwesen, das zufällig in diese Welt geworfen wurde und staunt und permanent den Kopf schüttelt über alles und irgendwie versucht klarzukommen und sich ständig die Augen reibt. Man denkt, ihre Texte sind das Augenreiben.

In fast allen der 16 Stories des im Original weit treffender mit No o­ne belongs here more than you betitelten Bandes entsteht in dem Spannungsfeld zwischen kindlicher Naivität und tiefer Weisheit eine ganz eigene, fragile Poesie, und in den besten dieser Geschichten spürt man förmlich, wie diese Frau, die vieles weiß und die wahrscheinlich kaum mehr etwas überraschen kann, um ihre Unschuld kämpft, um die Reinheit des ersten Blicks, um ihr Staunen.

„Wir hatten Menschen geliebt, die wir wirklich nicht hätten lieben sollen, und dann andere Menschen geheiratet, um unsere hoffnungslose Liebe zu vergessen, oder wir hatten einmal Hallo in den Hexenkessel Welt hineingerufen und waren schnell weggerannt, ehe jemand antworten konnte.“ Oder: „Im Haus gab es leere Zimmer, die sie mit ihrer Liebe hatten erfüllen wollen, nun arbeiteten sie gemeinsam daran, diese Zimmer mit Möbelklassikkern aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts vollzustellen.“ Oder: „Aus armen Leuten, die im Lotto gewinnen, werden keine reichen Leute. Sie werden zu armen Leuten, die im Lotto gewonnen haben.“ Miranda Julys „Stellen“ sind hinreißend schräge poetische Aphorismen, Balsam für die geschundenen Seelen der Verstörten und Verlorenen.

Als Kurzgeschichten im klassischen Sinn sind die Texte um die „Stellen“ herum eigentlich kaum zu bezeichnen, dafür bleiben sie nicht konzentriert genug bei der Sache, sie plappern, schweifen ab; einige Stücke sind eher launige Feuilletons, und was von Kritikern bereits als Zukunft des Genres ausgerufen wurde, ist oft nur Etikettenschwindel. Die Geschichte „Majestät“ zum Beispiel könnte 1:1 eine Kolumne von Harald Martenstein sein – was sie keineswegs schlecht macht. Aber wenn man bösartig wäre, könnte man vermuten, dass hier eine Frau, die auf vielen Gebieten der Kunst tätig ist und vor Ideen nur so zu platzen scheint, einfach etwas Dampf aus ihrem Notizbuch abgelassen und einige ihrer Ideen irgendwie zu Geschichten zusammengestückelt hat.

Dass die Ergebnisse von extrem unterschiedlicher Qualität sind, liegt wahrscheinlich in der Natur der Sache. Aber während etwa ein Viertel der Texte wirklich nah dran ist, zu etwas ganz Besonderem zu werden und eine eigene verstörende Qualität zu entwickeln, blitzt in dem Rest immer wieder Berechnung durch, wirkt das Skurrile manchmal gewollt, die intendierte Überraschung angestrengt, sogar unglaubwürdig. In diesen Momenten scheint Miranda July wie ein trotziges Kind aufzustampfen und zu sagen: „Pech. Ich bin eben anders.“

Ihre Texte sind immer dann am besten, wenn sie eine klassisch geplottete Geschichte erzählt. „Die Schwester“ zum Beispiel handelt von einer ganz besonderen Freundschaft zwischen zwei alten Männern und der Beziehung zu einer Frau, die es gar nicht gibt. Eine überraschende Geschichte voller Wendungen, bei der sich strukturelle Hardware und die ganz eigene schwebende Skurrilität der July’schen Poesie schließlich zu einem zauberhaften Ganzen fügen.

Stefan Beuse

Miranda July: Zehn Wahrheiten (No o­ne belongs here more than you, 2007). Stories. Diogenes 2008. 252 Seiten. 18,90 Euro.