Am 4. August 2011 wird im Londoner Stadtteil Tottenham der 29-jährige Mark Duggan von einem Polizeibeamten erschossen. Sein Tod löst bei den Bewohnern des Bezirks Wut und Empörung aus. Es kommt zu Krawallen und gewalttätigen Ausschreitungen. Für Frank Göhre war das der Anlass, noch einmal die Kriminalromane von Victor Headley zu lesen.
Tatort: Londons Randbezirke
„Tottenham brennt“ titelt Spiegel Online und berichtet: „Eine aufgebrachte Menschenmenge setzte mehrere Polizeifahrzeuge, einen Doppeldeckerbus sowie mehrere Gebäude in Brand. Polizisten wurden mit Molotow-Cocktails und Ziegelsteinen beworfen, acht von ihnen wurden verletzt, einer schwer am Kopf.“ Die Unruhen weiten sich schnell auf andere Stadtteile Londons aus, und schließlich auch auf andere Städte. Es ist eine im wahrsten Sinne des Wortes heiße Woche.
Tottenham ist ein stark multikulturell geprägter Stadtteil im Norden der britischen Megacity. Die Bewohner stammen vor allem aus der Karibik, aus Westafrika und aus der Türkei. Der tote Mark Duggan ist westindischer Herkunft. Polizeiangaben zufolge soll der vierfache Vater ein „Major Player“ der „Star Gang“ mit dem Straßennamen „Starrish Mark“ gewesen sein. Er habe in engem Kontakt mit jamaikanischen Drogendealern (Yardies) gestanden. Seine Verhaftung lief. Beim Zugriff trifft ihn der tödliche Schuss aus einer Polizeiwaffe.
Gut 25 Jahre zuvor landet aus Jamaika kommend ein gewisser D. in London Heathrow. Er ist ein Yardie, ein Drogenkurier:
„Die lange Schlange vor dem Schalter der Einwanderungsbehörde war lautstark, aber auch sehr farbenfroh. Nach über acht Stunden im Flugzeug waren die Passagiere nun ungeduldig. Jeder brannte darauf, die Formalitäten hinter sich zu bringen, um endlich wartende Familien und Freunde begrüßen zu können. Voller großer Erwartungen betraten sie den Boden des mythischen England, denn für die meisten war es das erste Mal, dass sie Jamaika verlassen hatten.“ (Victor Headley, „Yardie“, Reinbek, 1995)
D. reist mit einem falschen Pass ein – als Jonathan Miller, geboren 1957 in Kingston. Er ist in einer der härtesten Gegenden der Stadt aufgewachsen, in Trenchtown.
„D. hatte seine Lehrjahre voller Eifer absolviert und sich als zuverlässig und furchtlos erwiesen … Außerdem entdeckte er, dass er praktisch mit allem und jedem ungeschoren davonkommen konnte; nur wenige Jungs waren dumm genug, sich mit ihm anzulegen … Die wenigen, die es dennoch wagten ihn herauszufordern, wurden die ersten Opfer seiner Neigung zur Gewalttätigkeit … Rücksichtslosigkeit und Härte wurden schon sehr bald zu Synonymen für D.’s Charakter.“ (Victor Headley, „Yardie“, Reinbek, 1995)
Bei seiner Ankunft in London hat D. ein halbes Kilo reines Kokain in einem Bauchgürtel und ein weiteres halbes zwischen den Beinen: „Yeah, eins-A Stoff, Maan.“ Die eine Hälfte liefert er korrekt bei der Gang seiner Landsleute ab, mit der anderen verpisst er sich. Eine klassische Kampfansage, das Intro so mancher Thriller: Beklau deine Kumpel und es dauert nicht lange, bis Action ist:
„Er war nur zwei Schritte vom Bordstein entfernt, als er die zwei verschiedenen, aber ineinander vermischten Geräusche hörte – das Aufheulen eines starken Motors und das scharfe Knallen von Schüssen aus einer automatischen Waffe … Er hörte eine Kugel an seinem linken Ohr vorbeipfeifen. Als er über das Mäuerchen sprang, spürte er ein Brennen an seinem linken Arm.“ (Victor Headley, „Yardie“, Reinbek, 1995)
Wie bisher kriegt man D. auch diesmal nicht unter, doch ihm reicht’s. Er „will sie jäz fertigmachen“. Also trommelt er seine inzwischen angeheuerten Soldaten zusammen und gibt „mehrere 9-mm-Magazine, zwei Uzis und eine Pump-action-Schrotflinte sowie Munition“ aus. Es braucht nicht viel Fantasie, um zu wissen, wie das endet. Es wird geschossen, es wird gekillt, und letztlich spickt einer die Bullen mit Infos, die ausreichen, um den Konkurrenten auszuschalten. D. wird verhaftet und ausgewiesen:
„Schlächtigkeit und Boshait … sieh ma, wie viele von uns wegn dem Zeug schon gestoabn sind oda im Gefängnis sitzen. Man kann dabai nich gewinn.“ … Sanft legte Donna die linke Hand auf ihren Bauch. In diesem Augenblick schwor sie sich, dass D. eines Tages, gleichgültig wie lange es dauerte, das Kind sehen würde, das sie von ihm erwartete. (Victor Headley, „Yardie“, Reinbek, 1995)
Es ist in eben diesen Jahren, in denen sich der 1959 in Jamaika geborene Victor Headley als Marktverkäufer und Gelegenheitstexter im Londoner Stadtteil Harlesden durchschlägt.
Harlesden hat zu der Zeit den Ruf einer „African-Caribean-Community“ oder auch der „London-Harlem/Bronx“. Es ist das Zentrum der „black music“:
„Ein Studio-One-Stück nach dem anderen. Der DJ hatte die Tanzenden inzwischen da, wo er sie haben wollte – sie bettelten um mehr. Niemand, der etwas von der Geschichte und den Wurzeln des Reggae verstand, konnte einer Aufnahme des legendären Studio-One-Labels widerstehen. Von ihrem Hauptquartier in der Brentford Road in Kingston hatten Studio One und sein Gründer Clement Dodd jede Spielart des Reggae zusammengefasst. Von ihm stammten die originalen Bassläufe und die ursprünglichen Schlagzeugmuster, an die sich heutige Reggae-Produzenten und amerikanische Rapper immer noch stark anlehnen. Irgendwie schienen keine anderen Rhythmen des Reggae so perfekt zu swingen wie ein Studio-One-Rhythmus.“ (Victor Headley, „Yardie“, Reinbek, 1995)
Die Discos sind an den Wochenenden knüppelvoll, und einer der regelmäßig auftauchenden Gäste ist Victor Headley. Zwangsläufig hat er Kontakt mit den Yardies und lässt sich auf Geschäfte mit ihnen ein. Straßendeals und dann auch ein Jamaikatrip, um neue Ware nach London einzuschleusen.
Victor Headley kommt in ein Land, das soeben erst die Ära der rechten JLP (Jamaica Labour Party) unter Edward Seaga hinter sich hat – von 1980 bis 1988. Acht Jahre ständig steigende Staatsverschuldung, acht Jahre weitere Verelendung und Gewalt in den Ghettos:
„In den Achtziger Jahren werden wir Zeugen der Abschlachtung von roots-Künstlern – ein Massaker, von dem auch die Wailers (Bob Marleys Band) betroffen sind. Nach Bob ist der Schlagzeuger Carlton Barrett an der Reihe, der vor seiner Tür in der Hope Road abgeknallt wird, und dann Peter Tosh. Er wird am 11. September 1987 ermordet, als er sich anschickte, eine der beiden Radiostationen von Jamaika zu kaufen. Von der Originalbesetzung der Wailers sind nur noch zwei Mitglieder übrig geblieben: der Bassist Familyman Barrett und Bunny Wailer. Der Tod des genialen dub poet Michael Smith hat mich besonders mitgenommen, denn er war einer der feinsinnigsten Geister, die der Reggae hervorgebracht hat. Er wurde von einem JLP-Schlägertrupp gesteinigt.“ (Hélène Lee, „Trench Town sehen und sterben“, Höfen, 2005)

Peter Tosh und Michael Smith
Mit den Missständen und den Gewalttätigkeiten ist es auch unter dem dann folgenden sozialistischen Premierminister Michael Manley von der PNP (People’s National Party) nicht schlagartig vorbei. Eins vor allem ist geblieben: die offiziell gandenlose Jagd auf Gras- und Kokaindealer (wobei allerdings viele Polizeibeamte in die Geschäfte verwickelt sind). Aber wie auch immer: Victor Headley wird in Kingston geschnappt und in den Bau gesteckt. In seiner Zelle beginnt er zu schreiben. Die Geschichte des Drogenkuriers D. ist nicht autobiografisch, aber sie ist absolut authentisch:
„Für jeden, der aus den ärmlichen Verhältnissen der Mietskasernen in Kingston kam, war England, gleichgültig wie hart es dort auch wurde, immer noch eine erheblich angenehmere Lebensumgebung. Der hohe Anteil frisch angekommener jamaikanischer Jugendlicher in dieser Gegend (Harlesden) hatte sich negativ für die hiesigen Ganoven ausgewirkt; die Konkurrenz war härter geworden. Außerdem arbeiteten die Neuankömmlinge nicht nach den gleichen Regeln wie ihre britischen Gegenstücke. Sie waren absolut skrupellos; sie respektierten die herrschende Hierarchie nicht und dachten gar nicht daran, sich durch so etwas wie Freundschaft oder Loyalitäten behindern zu lassen. Sie waren hungrig und wollten Geld. Viel Geld, und das sofort. Was zur Folge hatte, dass während der letzten fünf Jahre die Atmosphäre im Viertel angespannter, ja brisanter geworden war.“ (Victor Headley, „Yardie“, Reinbek, 1995)
Mangels Beweisen wird Victor Headley schon nach kurzer Zeit aus dem jamaikanischen Knast entlassen und reist zurück nach London. Hier schließt er den Roman ab: „Yardie“, Aufstieg und (vorläufiges) Ende eines Drogenbaron, knapp 180 Seiten. Das Buch erscheint 1992 bei XPress, einem kleinen Underground Verlag, der ausschließlich Publikationen schwarzer Immigranten veröffentlicht. Es wird allein durch Flugblätter und Mundpropaganda zu einem Hit.
Wie sein Protagonist D. kann Headley sich nun auch superscharfe Klamotten und einen BMW leisten. Zugleich aber wird er von seinen Verlegern gedrängt, eine Fortsetzung zu schreiben. Sie hat den Titel „Exzess“:
„South Hackney, London, Anfang der Neunziger Jahre. – Das Wohnzimmer der Wohnung im ersten Stock war spärlich möbliert, aber sauber und fröhlich tapeziert. Fotos von Lorna und ihren Söhnen, Szenen aus glücklicheren Tagen, zierten die Wände neben Postern von Bob Marley und afrikanischen Kopfplastiken. Der große Spiegel an der hinteren Wand war zur Wand umgedreht, eine Tradition der Trauer … Tyrone war gesund und munter, bis er und sein Freund Martin von der Polizei angehalten wurden, an diesem Sonntagabend auf dem Nachhauseweg vom Kino in Holloway. Als die Polizeibeamten sie beschuldigten, die Handtaschendieben zu sein, nach denen sie suchten … Sie wurden ins Polizeirevier Hornsey gebracht und in getrennte Zellen geschlossen. Als er am folgenden Tag im Krankenhaus aufwachte, erzählte Martin, dass sie im Transporter zusammengeschlagen worden seien, und er erinnerte sich, dass sie eingesperrt worden waren, er hatte Schreie und anderen Lärm aus der Nachbarzelle gehört. Tyrone war tot; er war während der Nacht an seinem eigenem Erbrochenen erstickt.“ (Victor Headley, „Exzess“, Reinbek, 1995)
Victor Healey erzählt in „Exzess“ von der alltäglichen Gewalt in den Randbezirken der britischen Metropole, von Polizeiwillkür gegenüber all denen mit anderer Hautfarbe und Herkunft. Das hat eine unselige Tradition. Schon als der jetzt zum Bestsellerautor avancierte Headley noch versucht hat, als Marktverkäufer über die Runden zu kommen, verletzen Polizeibeamte bei einer Hausdurchsuchung eine 37-jährige Farbige lebensgefährlich. Einer anderen setzen sie derart zu, dass sie an einem Herzschlag stirbt. Beide Vorfälle lösen die 85er Krawalle in den Stadtteilen Tottenham, Brixton und Handsworth aus. Und auch 2011 sind es wieder Polizisten, die durch ihre übereifrigen und zumeist ungerechtfertigten Aktionen die Wut und den Hass der Bevölkerung provozieren. In Hackney ist es die willkürliche Kontrolle und Verhaftung von zwei Afrikanern, in Tottenham der anfangs schon erwähnte tödliche Schuss auf ein vermeintliches Gang-Mitglied:
„Chris rieb sich mit der Hand über sein bärtiges Gesicht. Er arbeitete in einem Gemeindezentrum und wusste, mit welchen Dingen die Jugendlichen auf der Straße konfrontiert waren. Viele von ihnen fühlten sich unerwünscht, Fremde in der Stadt, in der sie geboren waren. Was konnte man Heranwachsenden sagen, das ihnen half, einen Sinn in das Durcheinander zu bringen, dem sie gegenüberstanden, wenn sie von der Schule betrogen, von den Eltern missverstanden und von der Polizei grundlos verfolgt wurden?“ (Victor Headley, „Exzess“, Reinbek, 1995)
Für sich hat Victor Headley bereits die Antwort. Er bekennt sich zum Glauben der Rastafari.
So gibt Headley dann auch in „Exzess“ den religiösen und traditionellen Momenten mehr Raum – der Neubeginn des Yardie D. auf Londons Straßen steht nicht mehr im Vordergrund. D. wird verstärkt mit Personen außerhalb der Drogenszene konfrontiert, vor allem aber mit Donna, der Mutter seiner kleinen Tochter Avril:
„Siehst aigentlich, was du da draußen machst? … Voariges Jahr hastu grade ebn noch mal Glück gehabt, und trotzdem lärnstu imma noch nichts dazu. – D. seufzte … Er hatte sich daran gewöhnt, das Leben so zu nehmen, wie es kam, auf sich zu vertrauen, sich auf seinen scharfen Verstand und sein Glück zu verlassen, um es bis zum nächsten Tag zu schaffen. Wenn er jetzt so darüber nachdachte, es hätte ihm schon gefallen, sich auf Jamaika niederzulassen zu können, wie er es Donna gegenüber erwähnt hatte, aber im Augenblick war das einfach noch nicht möglich.“ (Victor Headley, „Exzess“, Reinbek, 1995)
Wieder kommt es zu Kämpfen, und die letzte Schlacht wird im Roman am Pult zwischen den DJs der konkurrierenden Gangs ausgetragen. Doch auch diese Disco battle endet übel:
„… und dann sah er Sticks, der gegen seinen Wagen lehnte. Noch während er hinschaute, rutschte Sticks langsam an der Seite des Wagens hinunter. D. versuchte ihn aufrecht zu halten. Er kniete sich, stützte den Jugendlichen. Die ganze rechte Seite von Sticks‘ weißem Leinenhemd war feucht vor Blut. Soni lehnte immer noch an dem Wagen, stumm, zitternd, die Augen weit aufgerissen. Blut lief über die linke Seite ihres Gesichts auf ihren Hals. Costa schaute D. zu, als er Sticks behutsam auf die Straße legte.“ (Victor Headley, „Exzess“, Reinbek, 1995)
Im Frühjahr 94 ist Victor Headley in New York. Wenige Wochen zuvor hat er den letzten Teil seiner „Yardie“-Trilogie beim Londoner XPress Verlag abgeliefert. „Yush!“ ist „in Schwarz und Weiß geschrieben. Versuchen Sie nicht, Farbe hineinzubringen“, warnt Headley einleitend. Es ist diesmal wieder ein klassisches „Gangsta“-Drama, ein schmaler, temporeicher Roman, der von neuen blutigen Auseinandersetzungen in East London erzählt und mit D.s Tod endet. Schuld an seinem abrupten Ende auf der nächtlichen Straße hat ein ebenso bösartiger wie korrupter Bulle – Alltagsrealität in den sogenannten „Problemvierteln“ Londons und auch anderswo.
Anfang 2001 gibt Victor Headley an seinem vorübergehenden Wohnsitz in Pointe Noire, Kongo, eins seiner wenigen Interviews. Nach seinem religiösen Verständnis befragt, sagt er: „I spent 14 years in dreadlocks. The basic tenets of the Rasta faith are about freedom, hard work, excelling in whatever you do and loving and helping people. It’s the best for black people. But religion teaches you about what is going to happen after. Blacks have to worry about what’s happening now.“
Frank Göhre
Zur Homepage von Frank Göhre, mehr über die Bücher von Victor Headley.