Aus alt mach neu
Als Solist ist Morrissey mindestens ebenso populär wie mit seiner damaligen Band „The Smiths“. Schließlich war er der Kopf und das Gesicht der legendären Independent-Formation. Auf seiner neuesten Solo-CD „Ringleader Of The Tormentors“ hat er sich ein Face-Lifting mit hohem Wiedererkennungsfaktor verpasst.
Auf dem Cover ruht ein sehnsüchtiger, fast sanftmütiger Morrissey. Graue Schläfen, gezähmte Tolle, schwarzer Frack und eine Violine zart im Arm wiegend. Der Rebell der 80er scheint optisch in die Jahre gekommen zu sein. Doch der Schein trügt. Hinter seinem melancholischen Blick ins Leere verbergen sich Ironie, Wut und Verzweiflung. Bitter-süße Gemütszustände, die er der Welt auf keinen Fall vorenthalten möchte und in zwölf abwechslungsreich arrangierte Songs verpackt hat.
Fulminant und illusionslos bereits der Auftakt mit „I Will See You In Far-Off Places“ mit orientalisch anmutenden Hebungen und Senkungen des Gitarrenteppichs und der markanten ersten Liedzeile „Nobody knows what human life is, why we come, why we go…“ Mit verhaltenem Optimismus und einem verhallenden Gong verabschiedet sich der Track und gleitet in das sehnsüchtige, auf zartem Orgelsound ruhende „Dear God Please Help Me“ hinüber, um in der ironischen Pointe „Now I’m spreading your legs with mine in between, dear God, if I could, I would help you“ zu münden.
Originell und chartkompatibel
Der gleich nach Erscheinen auf Platz 3 der britischen Charts gelistete Song „You Have Killed Me“ weist denn wieder die bekannten Ohrwurmqualitäten auf, an denen zum ersten Mal auch der Erfolgsproduzent Tony Visconti (T. Rex, David Bowie) Anteil hat. Treibende, gleichmäßige Rhythmuspartien und eine einprägsame Melodielinie prägen das Lied, dessen Refrain einem so leicht über die Lippen geht wie ehedem der Smiths-Titel „Hang The DJ“. Auf ähnlich hitverdächtigen Pfaden wandelt Morrissey auch mit „The Youngest Was The Most Loved“. Ein Song, der allen Eltern die Illusion nimmt, durch liebevolle Erziehung Gutmenschen heranzüchten zu können. Aber auch „In The Future When All’s Well“, das mit traditionellen Rock-Riffs einsetzt und in gleichmäßigeres, aber beständig wellenschlagendes Fahrwasser übergeht, klingt äußerst chartkompatibel.
In dem ähnlich eingängigen „The Father Who Must Be Killed“ lebt Morrissey schließlich seinen ganz persönlichen Ödipus-Komplex aus. Ein Tribut an das diesjährige Freud-Jubeljahr oder die musikalische Bewältigung seiner schweren Jugendtraumata, die er damals in „Suffer The Children“ wesentlich düsterer zum Klingen gebracht hat. Diesmal besingt er den fiktiven Mord an seinem Erzeuger ohne Scham oder Schuldgefühl und atmet am Schluss befreit auf. In bester zynischer Tradition von einem Kinderchor begeleitet, der den Vatermord im Refrain untermalt und sich zum finalen Muttermord ausschweigt.
Alle Spielarten des Ablebens und der Agonie
„Life Is A Pigsty“, das Leben ist ein Schweinestall, heißt es in dem atmosphärisch schwermütigsten und anhaltendsten Track der CD. Den Schweinestall auszumisten, läge ihm so fern wie eine ungetrübte und unbeschwerte Weltsicht. Im Gegenteil, er zerrt uns zu den stinkenden Trögen und lässt uns in die Abgründe menschlicher Einsamkeit und Zweisamkeit blicken.
Mit solch schmerzlich-poetischen Erkenntnissen polarisiert und provoziert Morissey. Mal wehmütig-jaulend, mal kühl, mal spöttisch und herausfordernd. Öfter als auf seinem vor zwei Jahren veröffentlichten Comeback-Album „You Are The Quarry“ mit gleißenden Streichern und sanften Klaviertönen als Kontrapunkt zu den ansonsten härteren Gitarrenriffs und Drumparts. Und in „To Me You Are The Work Of Art“, „At Last I Am Born“ oder „I Just Want To See The Boy Happy“ werden sogar hoffnungsvollere Töne und Texte zu Gehör gebracht.
Man täusche sich aber nicht über diese mentalen Aufheller: Morrissey bleibt seinem ewigen Weggefährten auch diesmal treu: dem Tod. Keine andere Pop-Größe hat die unterschiedlichen Spielarten des Ablebens und der Agonie so eindringlich, so eingängig in Noten und Worte gefasst wie der divenhafte Eigenbrötler aus Manchester. Der „Ringrichter der Quälgeister“ (Ringleader of the Tormentors) ist selbst eines. Aber eines, dem man gerne und oft lauscht.
Jörg von Bilavsky
Morrissey: Ringleader Of The Tormentors. Attack Records/Sanctuary, ATKCD016.
Morrissey-Hommage im Netz
Hörproben des Albums bei Radiodisko.ch
Morrissey-Release-Party am 7.4.2006, 23 Uhr im Icon, Cantianstr. 15, 10437 Berlin