Geschrieben am 21. Januar 2012 von für Bücher, Crimemag

Roland Oßwald über Walter Serner

Kosmos Serner

– Zu einem der Fixsterne der frühen Kriminalliteratur im vernünftigen Sinne gehört Walter Serner. Auch ohne Anlass (obwohl man zu seinem Geburtstag am 15. Januar 1889 einen solchen konstruieren könnte) ist es immer sinnvoll, auf Serner und die kriminalliterarische Tradition von Eleganz und Witz hinzuweisen. Ein kleines Porträt von Roland Oßwald.

„Dichtung ist und bleibt ein, wenn auch höherer Schwindel“, schreibt Walter Serner 1927 an seinen Verleger Paul Steegemann. Die Worte vom hohen Schwindel könnten an den Verleger gerichtet auf die geringen und launenhaften Honorare abzielen, die der Doktor der Rechtswissenschaften von Steegemann angewiesen bekommt. Seine Spitzentitel Die Tigerin oder auch der Kurzgeschichtenband Zum Blauen Affen erreichen zu Serners Lebzeiten Absatzzahlen von gerade mal knapp dreitausend Stück. Für die zahlreichen von Serner verfassten Feuilletons in diversen Zeitungen und Zeitschriften kommen noch ein paar Groschen dazu. Trotz dieses schmalen Einkommens lebt er in ständiger Bewegung, permanent pendelnd zwischen den europäischen Städten, die in dieser Zeit angesagt sind. Seinem Freund, dem Maler Christian Schad, umschreibt er sein Leben als „[…] in Europa Spazierenfahren“. In den Jahren 1915 bis 1919 werden unter dem Namen Serner, Walter, geb. 1889, 15. Jan. in Karlsbad, Böhmen allein in der Schweiz einundzwanzig An- und Abmeldungen bei der Einwohner- und Fremdenkontrolle verzeichnet. Aus dem Elternhaus – der Vater gibt mit seinem Bruder zusammen die Karlsbader Zeitung heraus – fließen wenige Alimente. Wie der reisende Dr. jur./Schriftsteller (so führen ihn die Schweizer Behörden) sein Leben finanziert, bleibt eines der vielen Mysterien in Serners Leben. Hans Richter erinnert sich: „Er war ebenso stolz wie (meistens) arm. […] Er war ein Zauberer der Sparsamkeit, aber selbst er war nicht immer erfolgreich genug, um etwas zu essen zu haben. Doch sagte er das keinem. Er verschwand einfach. Niemand wusste, wo er lebte.“

Dass der Doktor den Schwindel der Dichtung einfach nur aus finanziellen Nöten heraus definierte, ist natürlich unsinnig. Denn wenige Zeilen weiter unten in dem Brief an Steegemann vertieft Serner seine These. „Menschen gestalten, heißt: sie fälschen. Es gibt so wenig geschlossene oder intelligible Charaktere, wie es Wahrheit gibt. Alles ist stets im Fluss. Gestalten aber schafft Umrisse, in die es hineinerklärt und Positives festzulegen meint. Das ist Tüchtigkeit, Kunst, Mumpitz.“

„Ich bin auch ein Plagiator“

Unaufrichtigkeit ist das menschliche Merkmal, das Serner am stärksten beschäftigt. Vor allem in der Veröffentlichung. „Ich bin mir wohl bewußt, nichts Endgültiges, nichts Alles-Überragendes geschrieben zu haben. Denn ich sträube mich nicht nur dagegen, Kunst zu machen, sondern auch die Wahrheit gepachtet zu haben. Was ich für mich beanspruche, ist: daß kein lebender deutscher Autor so aufrichtig ist wie ich.“ Häufig wird Serner den Vertretern des Verismus zugezählt. Doch einfaches Schubladendenken schmeckt ihm nicht. Im Gegenteil, in dessen Umkehrung oder besser noch in einer Alternativdefinition, sieht Serner die Herausforderung. Wenn er etwas vertritt, dann sich selbst, ihn fasziniert ein Leben in der Halbwelt, er zeichnet wie im Vorbeigehen seine Empathie für Prostituierte, Zuhälter, Hochstapler und Berufsverbrecher auf. Um ein Rubrum gebeten, benennt er seinen Stil Sincèrismus; der Versuch der klarsten Darstellung, in der man alles ausspricht, ohne dabei auszumalen. Dies übertragen in das Setting des Verbrechermilieus schreckt die bürgerlichen Moralisten damaliger Feuilletons auf. Und Serner pfeift drauf. Öffentlich. Eine Haltung, die ihm Nachahmer, aber vor allem Verdächtigungen und Verleumdungen einbringt. Abgesehen von polizeilicher Überwachung (in fast ganz Europa) und staatlicher Kontrolle seines Briefverkehrs wachsen immer wieder Epigonen nach. Die selbstverständlich, einmal überführt, nie abgeschrieben haben wollen. Serners erster langer Text Letzte Lockerung – im März 1919 trägt sie noch den Untertitel manifest dada – wird erfolgreich von Tristan Tzara publikums- und verkaufstauglich kopiert. Tzara heimst auf diese Weise die Krone des Mouvement Dada für sich ein. Ironischerweise gab Serner bei einer Soirée (dada) in Genf 1920 im Verlauf eines fingierten Streitgesprächs mit einem Browning vier blinde Schüsse auf Tzara ab; der, wohl anschaulich spielend, auf der Bühne starb. Dieser Auftritt der beiden Dadaisten schlug in der damaligen Presse hohe Wellen. Die Provokation war perfekt. Im gleichen Jahr beteiligt sich Serner noch eine Zeitlang an den Unternehmungen der Pariser Dadaisten, überwirft sich jedoch im Herbst mit seinem ehemaligen Partner Tzara, und wendet sich von der Bewegung ab.

1926 tritt Serner in der Wiener Allgemeinen Zeitung unter dem Titel Ich bin auch ein Plagiator den Beweis an, dass Paul Morand in seinem Buch L’Europe Galante aus seinem 1920 erschienenen Zum Blauen Affen abgeschrieben hat. Das Plagiat als Diktat der Dichtung. Alles ist Schwindel. Und genau darum geht es Serner in erster Linie. Schwindel, Betrug, Hochstapelei. Den Truc (Coup, Bluff). Nicht fiktionalisiert provoziert, sondern ausgeführt im Leben selbst.

„Die Welt will betrogen sein“

„Da Serner immer wieder betonte, daß es nur relative Feststellungen von relativen Zusammenhängen gibt, und auch die gäbe es nicht, machte er sich oft über die Naivität der Leute lustig, die mit einem Schlag die (ogottogotto)Wahrheit erfahren wollen“, erinnert sich Christian Schad. In Serners Letzte Lockerung heißt es: „Die Welt will betrogen sein, gewiß. Sie wird aber sogar ernstlich böse, wenn du es nicht tust.Letzte Lockerung – Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil entsteht 1918 in Lugano mit dem Untertitel manifest dada. Den zweiten Teil verfasst Serner 1927 in Genf. Hier entscheidet er sich für den neuen Untertitel. Teil Eins versteht sich als prinzipielles Handbrevier für Dadaisten (bei Serner heißen sie Rasta oder Rastaquois). Es beginnt so: „Um einen Feuerball rast eine Kotkugel, auf der Damenstrümpfe und Gauguins besprochen werden. Ein fürwahr überaus betrüblicher Aspekt, der aber immerhin ein wenig unterschiedlich ist: Seidenstrümpfe können genossen werden, Gauguins nicht.“ Und endet: „Dem Kosmos ein Tritt! Vive le rasta!!!“ Teil Zwei widmet sich dem praktischem Hochstaplerleben. Er ist zusammengefasst in 591 Aphorismen. Kurz und bündig. „1. Es gibt im Grunde weder Herren noch Diener. Sklaven ihrer Fähigkeiten und Temperamente sind alle. Bleibt dir das stets bewußt, so wird es dir nicht schwer sein, dich und Andere zu lenken.“ Und „591. Die Welt will betrogen sein…“

„Psycho-Dancing“

Serners Stärke ist die Short Story. In etwa hundert Kriminalgeschichten beweist er es. „Denn alle meine Bücher setzen sich lediglich aus Detailaufnahmen zusammen, durch die ein aufrichtiger Zustand erhellt wurde. Nebenbei: ein aufrichtiger Zustand ist noch lange kein wahrer. Er zeigt lediglich das Chaos oder den Menschen im Angriff dagegen und ist immer furchtbar und tragisch, auch wenn er grausam, zynisch oder witzig ist. Dieses Erhellen gelingt leider nicht allzu oft, meist nur in Etappen. Daher meine Vorliebe für kurze Geschichten und Episoden.“

Als Beispiel lese man Das Geheimnis der Concetta Cappi, aus dem Band Der Pfiff um die Ecke. Im Neapel der Zwanziger Jahre war der Strich verboten worden. Bald darauf fuhren nach Einbruch der Dunkelheit die Via Roma Damen in Droschken auf und ab. Sie hielten hin und wieder an und ließen Männer zusteigen. In der Regel tauchten die Droschken und Damen eine Stunde später wieder auf. Der Preis pro Stunde betrug 2000 Lire (für Ausländer).

Die professionelle Reziprozität zwischen Gauner und Flic bringt Serner unnachahmlich (hoho an die Plagiatoren) in der Geschichte Der Vicomte auf den Punkt. Mit allem was dazugehört. Intellekt, Lebenslust, Eleganz, Paranoia, Gewalt. Ein paranoides Katz-und-Maus-Spiel. Psycho-Dancing (so auch der Titel einer Erzählung in dem Band Die tückische Straße). Dem Sujet bleibt Serner treu. Immer wieder befasst er sich mit dem Leben abseits der Bürgerlichkeit. In knappen, scharf formulierten Episoden, die Dialoge sind meist in Argot oder Rotwelsch gehalten,  beschreibt Serner den Babystrich Barcelonas, die Liebe eines Berliner Betrügers zu seiner Gummipuppe, das Versagen eines Kokainisten im Hochstapeln usw. Er beschreibt einnehmend das menschliche Treiben in vollem Gange, oder wie er selbst „Psycho-Dancing“ definiert, den Umgang mit den Menschen. Theodor Lessing schreibt über Serner 1925 in seinem Aufsatz Der Maupassant der Kriminalistik: „Ich behaupte getrost: kein lebender Schriftsteller kann diese Wahrheit erreichen.“ Und Alfred Döblin in einem Gutachten: „Er ist allerechtestes literarisches Gewächs. Ganz ausgewählte Bijous sind seine kleinen Erzählungen, fast alle aus demselben Milieu wie Die Tigerin. Serners Hauptkraft liegt in dieser Kleinkunst, in der sprachlichen virtuosen Präcision der kleinen scharfen Zeichnung.“

„Das beste Buch ist das unterlassene“

Serners Probleme nehmen zu. Nicht nur das Prekäre nagt am Fortschreiten, auch seine Gegner stellen sich breiter gegen ihn auf. Aus welcher Richtung der Wind bläst, liegt auf der Hand. Serner ist Halbjude (als geborener Seligmann war er 1909 vom Judentum zum Katholizismus konvertiert). Serner legt den Finger in den Dreck der menschlichen Psyche. Serner preist die käufliche Liebe. Das Hochstapeln. Den Betrug. Ihm ist das Ausland lieber als Deutschland; Ausnahme das Verbrechermilieu Berlins. 1925 zieht der NS-Ideologe Alfred Rosenberg im Völkischen Beobachter über Walter Serner und Theodor Lessing her (Der Internationale Mädchenhandel). Ausgangspunkt ist Lessings Serner-Maupassant-Artikel im Prager Tagblatt wenige Wochen zuvor. Nach Rosenberg ist Serner ein Mädchenhändler und Bordellbesitzer. Diffamierungen wie diese hört sich der Doktor einige Jahre lang an. Auf einige reagiert er, stellt sie öffentlich richtig. Andere belächelt er. In dieser Zeit steigt langsam aber sicher die Zahl der Nationalsozialisten, die in Amtsstuben und Zeitungsredaktionen Einzug halten. Gleichzeitig kommen die Verkaufszahlen seiner Bücher fast völlig zum Erliegen. Im Herbst 1927 schreibt Serner an Christian Schad: „Ich weiß, mein Lieber, daß Sie es mir gut meinen. Aber ich werde so sehr gehaßt, man arbeitet so sehr gegen mich, daß ich anfange die Sache ekelhaft zu finden. Und da ich nicht der Mann bin, den Kopf hängen zu lassen, werde ich mich eben bald abkehren.“ Es folgen eine Handvoll Artikel in wenigen Zeitungen. 1930 erscheint die letzte Publikation des Doktors. Danach hört man nichts mehr von Walter Serner. Gerüchte schießen ins Kraut, von denen keines wahr ist. 1931 wird ein Verfahren im Landesjugendamt der Rheinprovinz, Abteilung Prüfstelle für Schund- und Schmutzschriften eröffnet. Gegenstand: Walter Serners Die Tigerin. Serners Verleger Paul Steegemann kämpft mit geeigneten Mitteln. Er lässt von angesehenen Schriftstellern Gutachten erstellen. Darunter das oben erwähnte von Alfred Döblin. Steegemann hat mit den Beisitzern des Verfahrens Glück und gewinnt. Im Januar 1933 kommt es zu einem zweiten Verfahren. Diesmal im Landesjugendamt München. Betreff: Schund- und Schmutzschriften. Es wird das Gesamtwerk Serners verhandelt. Urteil: „Die Schriften mußten daher auf die Liste der Schund- und Schmutzschriften gesetzt werden.“

Was aus seinem letzten Roman geworden ist, bleibt im Dunkeln. Wie aus einer Notiz Serners an Steegemann hervorgeht, waren drei Kapitel Ende 1928 geschrieben. Thema: das Leben eines internationalen Herrenschneiders. Der Doktor hatte einmal in einem früheren Brief an Paul Steegemann folgende Maxime formuliert, ob im Spaß oder völlig ernst gemeint, liegt beim Leser: „Das beste Buch ist das unterlassene.“

Walter Serner (Christian Schad, 1916)

Sprachlehrer

Viele Jahre war Walter Serner von der deutschen Büchermacherszene vergessen worden. Erst 1966, zum 50ten Jubiläum des Dadaismus, erwachte das Interesse an Serners Werk. Und dann dauerte es noch einmal ein gutes Jahrzehnt, bis der Doktor wieder gesamt und für jeden zugänglich war. Zu danken ist dafür dem Germanisten Thomas Milch (Begründer des Walter-Serner-Archivs) und dem Verleger Klaus G. Renner, die zwischen 1979 und 1984 in mühevoller Recherche und mit immensen Arbeitsaufwand Serners Lebensweg (insbesondere nach 1932) und Gesamtwerk zusammenfügen. Auf einer Serner-Forschungsreise in der Tschechoslowakei 1981 stößt Thomas Milch auf die bittere Realität. Er schreibt: „Amtliche Dokumente der Zeit weisen Walter Eduard Israel Serner als Sprachlehrer, Dorothea Sara Serner als Hausfrau aus; in der Prager jüdischen Gemeinde sind sie unter den Nummern 36213 und 36212 registriert. Am 10. August 1942 werden sie mit dem Transport Ba (als Nr. 253 und Nr. 1338 von insgesamt 1460 Personen) in das Ghetto Theresienstadt eingeliefert, und von dort am 20. August im Transport Bb (als Nr. 803 und Nr. 804 von 1000 Personen) nach dem sogenannten Osten deportiert. Das Ziel ihrer Reise ist nicht bekannt.“

Es gibt zwei Theorien über die Ermordung des Ehepaars Serner. In der ersten wird vermutet, da von Theresienstadt aus erst im Oktober 1942 nach Ausschwitz deportiert wurde, dass sie in einer der zwei bei Minsk stationierten, fahrbaren Gaskammern getötet wurden, in Russland „Seelenvertilger“ genannt. Der zweiten Theorie nach könnten Walter und Dorothea Serner auch in der Nähe des Vernichtungslagers Maly Trostinez im Wald von Blagowschtschina getötet, danach exhumiert und von einem Sonderkommando auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden sein.

Roland Oßwald

Bücher:
Walter Serner: Das gesamte Werk. Band 1-8, 3 Supplementbände. Hrsg.: Thomas Milch. Erlangen, München: Renner, 1979-1992.
Gesammelte Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Thomas Milch. München: Goldmann 1988.
Walter Serner: Letzte Lockerung – Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen. Zürich: Manesse Verlag  2007. Verlagsinformationen zum Buch.
Christian Schad: Relative Realitäten – Erinnerungen an Walter Serner. Augsburg: MaroVerlag 1999. Verlagsinformationen zum Buch.

Netz:
Letzte Lockerung: Manifest Dada (Hannover 1920) online. Deutsches Literaturarchiv Marbach. Zum Blog von Roland Oßwald.

 

Tags :