Trotz allem glücklich
– Lange Zeit war der in New York lebende und ganz besonders mit der jüngeren europäischen Geschichte verbundene Historiker Tony Judt nur wenigen bekannt. Sein Name begann sich erst herumzusprechen, als er als Intellektueller jüdischer Herkunft begann, vehement die israelische Lobby in den Vereinigten Staaten zu attackieren. Von Carl Wilhelm Macke
In dem Moment hagelte es von einem Teil ebenfalls jüdischer Intellektueller Vorwürfe, dass er nicht nur antizionistisch eingestellt sei, sondern auch noch den rechten Antisemiten Argumente liefere. Noch bekannter wurde Judt dann allerdings aufgrund seiner schweren, unaufhaltsam zum Tode führenden Erkrankung. Seine Mobilität, Schreib- und Sprachkompetenzen bauten sich immer mehr ab, bis er schließlich vollkommen bewegungsunfähig ans Bett gefesselt war. Aber trotzdem verfasste er noch mit Hilfe von Freunden sehr kluge Essays und Bücher über die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die uns für lange Zeit eine Orientierung geben werden, wenn wir uns über die Errungenschaften und Katastrophen dieses Jahrhunderts verständigen. Zuletzt erschien von ihm der Band „Das vergessene 20. Jahrhundert“ (2010) mit Porträts großer, dieses Jahrhundert prägender Intellektueller. Faszinierend an Tony Judt war seine Fähigkeit, trotz der schweren, ihn körperlich vollständig lähmenden Erkrankung, geistig fast bis zum letzten Atemzug von großer Lebendigkeit geblieben zu sein.
Fokus Familie und Studium
„Das Chalet der Erinnerungen“, geschrieben, besser diktiert, noch auf dem Sterbebett, gibt ein beeindruckendes Zeugnis dieser geistigen Präsenz von Judt, trotz seines extremen körperlichen Verfalls. Er lässt hier noch einmal sein Leben Revue passieren: von der Kindheit und Jugend in London und England über den Aufenthalt im israelischen Kibbuz, dann das Studium in Cambridge und Paris und die Reisen durch Europa bis schließlich zu der Zeit im Milieu der amerikanischen Ostküsten-Intellektuellen.
Alle Kapitel haben ungefähr die gleiche Länge und sind jeweils auf einen einzelnen Lebensabschnitt fokussiert. Farbig und nicht ohne einen feinen englischen „sense of humour“ schildert Judt das Milieu seiner Herkunftsfamilie. Englische Mittelklasse mit jüdischer Herkunft, von der eigentlich wenig Aufregendes zu berichten ist. Allerdings gab es über den aus Belgien stammenden Vater für den Sohn Tony schon früh einen Sog auf das europäische Festland, der in dieser Form eher untypisch gewesen ist für eine englische Familie seiner Generation. Man erfährt vieles über das farb- und geschmacklose englische Essen, über das öffentliche Verkehrssystem in London, über die strenge englische Schulausbildung. Die „revolutionären 60er-Jahre“ erlebte Judt in Paris und an der Eliteuniversität in Cambridge, wo unentwegt demonstriert wurde ohne genau zu wissen, wofür oder wogegen man eigentlich protestierte.
Typisch für den immer auch sehr selbstkritischen Autor ist dann seine die Studienzeit resümierende Frage: „Was wussten wir von dem Mut, den es brauchte, wochenlange Verhöre in polnischen Gefängnissen zu überstehen und Haftstrafen von ein, zwei oder drei Jahren für Studenten, die Dinge gefordert hatten, die für uns selbstverständlich waren?“ Erst die späteren Konfrontationen mit den Trümmern, die der Kommunismus in den osteuropäischen Ländern hinterlassen hat, machten Judt dann zu einem überzeugten Antikommunisten, der aber immer auch ein ebenso überzeugter Antikapitalist blieb.
Bedeutung europäischer Sozialdemokratie
Seine politische Heimat wurde in den letzten Jahren immer mehr eine „post-marxistische Sozialdemokratie“, die ihm als die einzig vertretbare Antwort auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts erschien. In den Programmdiskussionen der europäischen Sozialdemokratie spielen die Texte von Tony Judt eine wichtige Rolle. Während viele Intellektuelle seiner Generation seit dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem angeblichen endgültigen Sieg des Kapitalismus resignativ oder zynisch durch die Gegenwart irrlichtern, hat Judt bis zum Ende seines Lebens 2009 mit erstaunlichem Optimismus die Rolle einer erneuerten Sozialdemokratie in einem selbstbewussten Europa verteidigt.
Und – man mag es angesichts des Schicksals von Judt kaum glauben – er hat sich als einen glücklichen Menschen bezeichnet. „Doch es gibt verschiedene Sorten Glück. Opfer einer Motoneuronkrankheit zu werden bedeutet sicher, irgendwann die Götter beleidigt zu haben … Wenn man aber in dieser Weise leiden muss, ist es besser, einen gut ausgestatteten Kopf zu haben – voller abrufbarer, vielseitig verwendbarer Erinnerungen, die einem analytischen Verstand jederzeit zur Verfügung stehen. Es fehlte nur ein Speicher. Dass es mir vergönnt war, in dem Fangnetz eines Lebens auch dies zu finden, empfinde ich als ziemlichen Glücksfall.“
Diese Einstellung zum Leben überträgt sich auch auf den Leser der Memoiren von Tony Judt. Man hatte einen eher traurigen Abgesang auf das Leben eines todkranken Autors erwartet, von dem man dann aber mit Erinnerungen an ein aufregendes Jahrhundert beschenkt wird, das immer noch seine Schatten auf das neue Jahrhundert wirft, in dem wir heute leben.
Carl Wilhelm Macke
Tony Judt: Das Chalet der Erinnerungen. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. München: Carl Hanser Verlag 2012. 224 Seiten. 18,90 Euro