Meine faschistische Verwandtschaft
– Man stelle sich einmal vor, über den Ausbau des Straßennetzes während der Nazizeit hätte ein deutscher Gegenwartsautor einen dicken Familienroman geschrieben. Und man stelle sich weiter vor, dass der Grundtenor dieses Wälzers keineswegs gegen Hitler und seine Architekten gerichtet wäre. Es wäre ein Roman geworden, der nicht ohne Humor und leicht eingängig das Milieu von Menschen geschildert hätte, in dem man mit diesem Autobahnbau der Nazis sehr einverstanden war. Der Autor hätte sehr genau und liebevoll eine Familie geschildert, in der alle Mitglieder der Nazipartei eigentlich ganz wohlgesinnt gewesen wären – zwar keine richtigen Nazis, aber durchaus einverstanden mit deren Ideologie. Von Carl Wilhelm Macke
Die Meute der Literaturkritiker hätte sich beim Erscheinen dieses Buches vermutlich mit Geschrei auf den Autor und das Buch geworfen. Geschichtsrevisionismus und Verharmlosung der Nazizeit hätte man dem Buch unterstellt – wahrscheinlich nicht einmal zu Unrecht. Niemand wäre auf die Idee gekommen, einem solchen Roman auch noch einen angesehenen Literaturpreis zu verleihen.
Man könnte auch „Canale Mussolini“ von Antonio Pennacchi leicht in diese Schublade von Literatur stecken, in der man Bücher findet, die die „faschistische Epoche“ entdramatisieren und in ein neues, mildes Licht rücken. Aber man muss schon genauer hinschauen – wie es Pennacchi ja auch gemacht hat –, und der italienische Faschismus ist eben nicht deckungsgleich mit dem deutschen Nationalsozialismus. „Canale Mussolini“ zeigt einem wieder einmal, wie unterschiedlich die beiden Systeme gewesen sind, denen wir nicht ohne Denkfaulheit das Etikett „faschistisch“ verpassen.
Eines der gigantischen politischen Projekte Mussolinis war die Trockenlegung der „pontinischen Sümpfe“ südlich von Rom. Um diese Idee zu verwirklichen, musste der Faschismus große Massen von Menschen mobilisieren, die man vor allem aus dem Norden Italiens rekrutierte. Dazu gehörte auch die Familie Peruzzi aus dem Veneto, die im Mittelpunkt dieses weit ausholenden Epos von Antonio Pennacchi steht. Man kann unterstellen, dass in diesem Opus magnum von Pennacchi auch viele autobiografische Bezüge enthalten sind, obwohl er das explizit nie andeutet. Die einzelnen Figuren der Familie werden vom Autor sehr genau porträtiert, sodass man als Leser fast schon intim vertraut wird mit deren Besonderheiten, Abneigungen und Sympathien.
Irritiert nimmt man auch schnell zur Kenntnis, dass Mussolini und seine faschistischen Ideen in der Familie alles andere als unbeliebt waren. Zwar waren nicht alle Jubel-Faschisten, aber irgendwie hat sich jeder etwas von dem neuen faschistischen Italien versprochen. „Sie sagen, die Freiheit hat in Italien der Faschismus abgeschafft? Der Faschismus hat doch die Freiheit in Italien abgeschafft? Aber in Italien hat es nie Freiheit gegeben, was sollte der Faschismus da abschaffen? Den besseren Herrschaften hat er sie vielleicht genommen, aber die armen Leute hatten sie nie gehabt.“
Und selbst bei den „besseren Herrschaften“ fanden die Faschisten offene Palasttore vor. „Sehr freundlich, die faschistischen Frauen, alles Damen der besseren Gesellschaft, Töchter von Angestellten und Lehrern, auch Töchter von Grafen und Marquis …“
Pennacchi nimmt in seiner Chronik der Menschen, die während der faschistischen Jahre vom Norden Italiens in den unterhalb von Rom beginnenden Süden des Landes verpflanzt worden sind, sehr konsequent die Partei der kleinen Leute ein. Und diese einfachen Bauern und späteren Landkultivierer waren nun mal nicht alles Antifaschisten, wie es jahrzehntelang die kommunistische Heldensaga in Italien verkündete. Die faschistische Führungsclique um Mussolini pflegte zwar einen unerträglichen, manchmal auch absurd-komischen Helden- und Männerkult. Aber das fanden viele Italiener wie die hier von Pennacchi vorgestellten Figuren aus der Familie Peruzzi durchaus faszinierend und verführerisch.
Roman voller Schattierungen
Man ließ sich eben mitreißen vom Strom der neuen, faschistischen Zeit. Ein wenig opportunistisch, ein wenig bequem, ein wenig naiv, aber zu einem richtigen Antifaschismus konnte man sich nicht aufraffen. Als Leser des von Barbara Kleiner mit Tempo und Witz glänzend ins Deutsche übersetzten Buches zuckt man erschreckend oft zusammen, wenn es um die einnehmenden Schilderungen des ganz normalen faschistischen Milieus Italiens in jenen Jahren geht. Man ändert seine Sicht des Faschismus nicht, weil man durchaus weiß, welche schrecklichen Formen er für die ganze Welt gehabt hat. Auch für Italien, auch für die kleinen, einfachen Leute, denen der Autor so viel Sympathie entgegenbringt. Im ersten Teil des Buches wird etwa ein Pfarrer aus dem Podelta geschildert, der die Faschisten ganz und gar nicht mochte und mit dem die rechten Schlägertrupps dann kurzen Prozess machten.
Man sollte tatsächlich parallel zu diesem Roman andere literarische wie historische Dokumente kennen, die die manchmal von Pennacchi allzu sanfte Stimmung auch verdunkeln. Trotzdem ist „Canale Mussolini“ kein profaschistisches Epos, sondern ein Roman, mit dem der Autor die vielen Schattierungen einer Zeit zu erfassen sucht, für die wir uns ein scheinbar eindeutiges Urteil anmaßen. Wie die Haltung des Autors selbst zum historischen Faschismus ist, bleibt bei der Lektüre irritierend unklar. Dazu gehört auch, dass „linke“ italienische Literaturkritiker das Buch sehr gelobt haben, während eher konservative Kritiker diese Unentschiedenheit des Autors kritisiert haben. Insgesamt aber hat „Canale Mussolini“ in Italien bei Kritikern wie bei Lesern ein großes positives Echo gefunden. Sogar der Premio Strega, der wichtigste italienische Literaturpreis, wurde Pennacchi dafür verliehen.
Für einen deutschen Leser ist das alles sehr beunruhigend und schwer in die üblichen Schubladen von links/rechts, faschistisch/ antifaschistisch einzuordnen. Könnte man sich einen vergleichbar großen Roman auch für die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland vorstellen? Der Ausbau des Autobahnnetzes im „Großdeutschen Reich“ als eine Art von Heimatroman? Man kann es sich nicht vorstellen.
Carl Wilhelm Macke
Antonio Pennacchi: Canale Mussolini (Canale Mussolini, 2011). Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Hanser Verlag 2012. 447 Seiten. 24,90 Euro.