Geschrieben am 5. Mai 2012 von für Crimemag, Film/Fernsehen, Spotlight, die TV-Kritik

Spotlight/DVD: Boardwalk Empire – Season One

Nicht Liebe – Macht!

Schon wieder was, was uns das deutsche Fernsehen nicht zumuten mag. Steckt ja auch bloß Martin Scorsese dahinter … Fabian Wolff mit einem Qualitätshinweis: „Boardwalk Empire“.

Einer der ersten Sätze, die Tony Soprano zu seiner Therapeutin Dr. Melfi sagt, fasst das vorherrschende Gefühl der westlichen Welt um die Jahrtausendwende eigentlich gut zusammen: „I came too late, I know that. But lately, I’m getting the feeling that I came in at the end. The best is over.“

Wie diese besten Zeiten aussahen, das ist, auf der Oberfläche, das Thema der HBO-Serie „Boardwalk Empire“. Das Jahr ist 1919, der Erste Weltkrieg ist zu Ende, die Prohibition klopft an. In Atlantic City, der aufstrebenden Vergnügungsmetropole in New Jersey, reibt man sich die Hände und trinkt darauf Champagner: Der Alkoholschmuggel wird ein lohnendes Geschäft werden.

Heimlicher König von Atlantic City ist Nucky Thompson (Steve Buscemi). Offiziell ist er der Schatzmeister der Stadt, inoffizell ist er der Mann hinter dem Bürgermeister, schmiert Senatoren und Kongressabgeordnete und macht Geschäfte. Thompsons Leben ist von Problemen geplagt: Jeder trachtet ihm nach dem Leben oder wenigstens der Brieftasche. Buscemi spielt ihn als zu gleichen Teilen gesetzt und wieselhaft.

Atlantic City ist von vielen Figuren bevölkert, von denen manche Erlösung und manche einfach nur Vergnügen suchen. Margaret Schroder (Kelly MacDonald) leidet unter ihrem brutalen Mann, der dank Nuckys Bruder, Polizeichef Eli (Shea Wigham), Opfer eines Unfalls wird. Der traumatisierte Kriegsheimkehrer Jimmy (Michael Pitt) ist Nuckys Ziehsohn und wird, zum leichten Ärger seines Ersatzvaters, Schnapsschmuggler. Der wahnsinnige Prohibitionsfahnder Nelson Van Alden (Michael Shannon) sieht sich als Soldat im Krieg des Jüngsten Gerichts. Dazu kommen viele reale Figuren wie Arnold Rothstein (Michael Stuhlbarg), der 1919 die World Series manipuliert und zum Geschäftsfeind von Thompson wird. Einen besseren cast als hier findet man momentan in keiner Serie.

Beim Serienstart im Herbst 2010 setzte man große Hoffnungen auf „Boardwalk Empire“. Regiegott Martin Scorsese, ein Experte für breite Gangsterdekonstruktionen, und Terence Winter, einer der wichtigsten Autoren der „Sopranos“. Sie sollten zusammen als executive producers den großen Hit schaffen, der die zweite HBO-Herrschaftsära einläutet.

Es kam anders. Bei allem „It’s Not Television“-Gerede scheinen Publikum und Kritiker bei jeder neuen Serie die Lehren der HBO-Meisterwerke vergessen zu haben und reagieren genervt, wenn in der ersten Folge noch nicht ganz klar ist, wie die Figuren zueinander stehen, was eigentlich passiert, wohin es gehen soll. Auch „Boardwalk Empire“ ist eher ein Roman als eine Fernsehserie. Das ästhetische und thematische Versprechen von Folge 1 wird erst in Folge 12 eingelöst. Das Fundament muss erst gelegt werden – und nicht nur für die Staffel, sondern für die gesamte Serie.

In Season One ist „Boardwalk Empire“ generell eine Serie des „bevor“. Lucky Luciano und Meyer Lansky sind vor den Hochzeiten von Murder Inc. Handlanger von Arnold Rothstein; Bugsy Siegel, der spätere König von Las Vegas, erledigt Botendienste. Und Al Capone arbeitet als Fahrer für den Mob in Chicago. Sehr überzeugend spielt „Boardwalk Empire“ nur sehr selten mit diesen historischen Persönlichkeiten das „Sie werden mal Stars“-Spiel, sondern behandelt sie wie die anderen Figuren auch.

Die größte Schwäche der gerade an jeder Ecke auftauchenden period pieces, wie die Stewardessen-Soap „Pan Am“, der „Sopranos in Miami“-Klon „Magic City“ und der Kostümhit „Downton Abbey“, ist, dass man jeder Zeile die Verzweiflung anhört, eine Serie aus der Vergangenheit zu schreiben. „Boardwalk Empire“ entgeht dem Versuch, dauernd zeigen zu wollen, dass wir im Jahr 1919 statt im Jahr 2012 sind und wie sehr sich doch die Dinge geändert haben.

Dabei wird durchaus Zeitkolorit eingestreut, aber elegant und hintersinnig. In „Anastasia“, einer der schönsten Folgen der ersten Staffel, wagt Margaret Schroder den Schritt von grauer Jungwitwe zur selbstständigen Frau und lässt sich dabei von der wie märchenhaften angeblichen Rettung der Zarenprinzessin inspirieren – bis die Zeitungen am Ende der Episode vom Auffliegen der Anastasia-Hochstaplerin berichten.

Das andere große „bevor“ in der Serie ist das Amerika vor dem Bindestrich, bevor aus Italienern Italian-Americans wurden und „Ire“ noch eine Rasse war. Alle Figuren sind ausgeprochen ethnic. Die Männer von Rothstein fluchen auf Jiddisch: „Deyne bubbe zeygt shmeklech!“ So schickt Nucky Thompson nicht nur des Profits wegen Waffen ins old country und verkündet, dass „ein Ire ein Ire bleibt, egal wo auf der Welt er lebt“.

Nucky Thompson ist das große Enigma im Zentrum der Serie. Wo Tony Soprano jede Woche seiner Therapeutin und den Zuschauern seine Gefühle und Überlegungen ausbreitete, ob wahr oder gelogen, liegt Thompsons Innenleben oft im Dunkeln: Er möchte seine Gelüste befriedigen und mag Geld und Sex und ist oft wütend, aber das allein reicht nicht. Eher halbherzig zündet er das Haus seiner Kindheit an, in dem er von seinem inzwischen greisen Vater misshandelt wurde. Es gibt einfach ein unerklärliches Loch in Thompson, das sich nur mit einem füllen lässt.

Natürlich nicht Liebe. Sondern Macht.

Fabian Wolff

Boardwalk Empire – Season One (HBO 2010). 5 DVDs/Blu-Ray. Warner Home Video. Sprachen: Deutsch/Englisch. 27,99 Euro (DVD)/35,99 (Blu-Ray).

 

 

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