Geschrieben am 13. September 2012 von für Bücher, Litmag

Richard Calder: Tote Mädchen

„Puppen“, Vampirsex und eine heiße Schreibstube in Thailand

– Es schadet nicht, dass Dietmar Dath in diesen Roman einführt, in einem Vorwort, das ihm als Herausgeber der „Newgothic“-Reihe bei Suhrkamp (wo Richard Calders „Tote Mädchen“ erschienen ist) ohnehin zusteht. Vorwörter sind zwar zum Überspringen da, außer Kurt Vonnegut hat sie geschrieben, in welchem Fall sie heimlich-integraler Bestandteil der Romane sind, die Vonnegut selbst, vom allerersten Satz bis zum ENDE am Textende, als Autor verantwortet hat. Kennt einer noch Kurt Vonnegut? Tot, tot, alle sind sie tot, nur Calder lebt, im Gegensatz zu den Mädchen in seinem Roman, für die „tot“ allerdings eine Frage der Definition ist.

„Mit künstlichen Augen aus finster feurigem Glas betrachtet Richard Calder eine Welt, die er erschaffen musste, weil sie ihn dazu gezwungen hat.“ Wovon redet Dietmar Dath in diesem ersten Satz seines Vorworts? Schwer zu sagen (aber hübsch zu lesen). Calder scheint den Ex-Spex-Redakteur anzuregen, zu inspirieren, zu begeistern – und es gibt weit schlechtere Arten, in eine Lektüre einzuführen. Zum Begriff „New Gothic“ (die Amerikaner schreiben das auseinander) sagt Dath nichts (auch auf der Suhrkamp-Homepage ist zur Reihe und ihrem Namen nichts zu finden), aber dafür gibt es Wikipedia – New Gothic Art is a contemporary art movement that emphasizes darkness and horror – mit einem Link zu einem Manifest, geschrieben von Charles Alexander Moffat, Kurator der „Lilith“ (was sonst) Galerie. Darin wird, in Großbuchstaben, Folgendes festgehalten: GOTH IS ABOUT REBELLING AGAINST SOCIAL NORMS, AND DEFYING OLD FASHIONED SEXUALITY & REPRESSIVE GOVERNMENT AND RELIGION. DO NOT EVER FORGET IT.  Well, well.

Im angelsächsischen Sprachraum ist „Goth“ natürlich der Oberbegriff für Menschen, die im Ausgang lange schwarze Mäntel, fahles Make-up und Kajal-umrandete Augen tragen und an Pfingsten beim WGT in Leipzig das Straßenbild prägen. Grufties. Sanfte Rebellen. Schwarze Lämmer, wie die Freunde in Connewitz sagen. Wer sich nun wundert, warum Suhrkamp (wenngleich undercover) eine „Neugruftie-Reihe“ herausgibt, denke nur an den langjährigen, lobenswerten Einsatz des Verlags für „Fantastik“. Da gehört „Tote Mädchen“ am Ende wohl auch hin.

GOTHS am WGT Leipzig. FOTO: Antonia "Gahi" Hübner

Katy Perry, rekombiniert

Ohne dieses Vorwissen nahm ich den Roman mit auf eine Reise in der irrigen Annahme, es handle sich um einen Krimi, und stellte dann erfreut fest, dass die Mädchen darin nicht langweilig tot (oder gemordet) sind, sondern aufregend künstlich lebendig, nämlich „rekombiniert“. Rekombinanten sind in der Zukunftswelt Calders eine neue Art, Übermenschen, Wesen, die hinter die Schatten des Todes sehen und das Ticken des Uhrwerks im Universum hören. Die dazu notwendige Metamorphose, die in der Pubertät einsetzt, betrifft ausschließlich Mädchen, die mit ihrer Vollendung äußerlich als Klon von Katy Perry daherkommen, innerlich voller sensationeller Kräfte sind und bei alldem nichts anderes im Kopf haben, als sich mit Menschenjungen zu vereinen. Ein Teenager-Traum!

„Puppen“, nennt sie der Roman. Verkehr mit ihnen läuft über rasiermesserscharfe Küsse: „Zähne blitzten; Schmerzen brandeten in mir auf. Mit bestialischer Schnelligkeit hatte sie mir, durch das Hemd hindurch, ihre süßen Miezekatzenzähne in die Brust geschlagen. Ich hob die Fäuste, aber die Opiate in ihrem Speichel waren bereits in meinen Blutkreislauf gelangt; ich rief der Invasion ihrer Küsse ein Kamerad! entgegen.“

Cover #1: Aktuell entsteht (mit Leonardo M. Giron) der Comic zum Buch.

Der hier von seiner Entjungferung berichtet, heißt Ignatz und ist zum Zeitpunkt der Gegenwartserzählung 16 Jahre alt. Er ist ein „Puppen-Junkie“, dem Kick der Kunstmädchen verfallen, seit bei der von ihm verehrten Klassenkameradin Primavera die Metamorphose vom Kind zur Superfrau einsetzte.

Was in anderen Welten schlichtweg Pubertät heißt – die Verwandlung von (weiblichen) Kindern in aufgetakelte Glamourgeschöpfe – bedroht in Calders Universum den Fortbestand unserer Art. Wenn sich Puppen nämlich mit Menschen vereinigen, verunreinigen sie die Spermata ihrer Opfer, die danach selbst nur noch Puppen zeugen. Eine finstere Weltverschwörung? Mit Sicherheit. Und wer ist ihr Drahtzieher – der genial-verschrobene Dr. Toxicophilous, quantenmagisch verselbstständigte Automatenpuppen aus dem 19. Jahrhundert oder gar Lilith, die erste Frau Adams, die vor allem in der jüdischen Kultur als Samenräuberin und Succubus gefürchtet ist?

Fest steht, dass die Old School Menschheit die voraussehbare, demografische Verschiebung zugunsten von Kunstmenschen nicht einfach hinnehmen wird. Jugendliche, die wie Primavera erste Anzeichen der Metamorphose zeigen, werden ausgegrenzt, klinisch überwacht und schließlich, in der Regel mit ihrem Einverständnis (ein Merkmal der Puppen ist ihr ausgeprägter Todestrieb), vor laufender Fernsehkamera umgebracht. Wer das nicht möchte, muss fliehen.

Go, go, go!

Genau das tun Ignatz und Primavera auch, als modernes, durch und durch inverses Romeo-und-Julia-Kombinat. Ihr Weg führt, in der ersten Etappe, von London nach Bangkok.

„Sie krachten durch die Tür, ich sprang über die Balkonbrüstung und rannte los.“ So beginnt der Roman, schnell, direkt, vereinnahmend. Das „Ich“ meint Ignatz, der in diesem Moment nicht mit, sondern vor Primavera davonrennt, in einem letzten, zum Scheitern verurteilten Versuch, der Liebe zu entkommen, die Primavera nicht spürt (Puppen haben keine Gefühle) und von der er sich nicht lösen kann. Ihm auf den Fersen sind die „Pikadon-Zwillinge“, zwei sexy Killerinnen einer Automatenart, deren Stammbaum (wir sind in der Zukunft, aber nicht jenseits der Klassengesellschaft) sich mit demjenigen Primaveras nicht vergleichen lässt – je billiger die „femmes, desto billiger die „fatales“ – und die im Dienste der Puff-Madame Kito in Bangkok stehen, wo Ignatz und Primavera zwischenzeitlich Unterschlupf gefunden haben.

Der Anfang nimmt den Leser gewissermaßen im Laufschritt mit. Die Geschichte hört, im übertragenen Sinn, auch nicht auf zu rennen, bis das Liebespaar die Grenze zu China erreicht, wo Primavera schließlich, vom Feind vergiftet, stirbt. Eingeschoben in all diese Eile sind dann die Rückblenden, die mal in Form einer Prosaerzählung, mal als Theaterdialog die Vorgeschichte dieser amour fou erzählen. Stilistische Variationen sind allerdings eher die Ausnahme, auch Calders Rückblenden sind vorzugsweise im Turbomodus unterwegs, ein Amoklauf durch einen zum Bersten gefüllten Gemischtwarenladen aus Nanotechnologie, Quantenphysik, viktorianischer Kinderliteratur, apokryphen Bibeltexten, russischen Limousinen, Automatenkunst, Designermode, Shakespeare …

Russische ZIL

Flucht mit Stil: In einer russischen ZIL

Die Grundstruktur mag einfallslos sein (Speed plus Rückblenden, gähn), aber bei Calders nerdiger Liebe zu Allem, Was Cool Ist, hätte jede raffiniertere Konstruktion den Roman zum Abstürzen gebracht. Stattdessen fliegt er (auf Autopilot, vermutet man hin und wieder) in einem Tempo, dem kein Übergewicht etwas anhaben kann. Wer einmal eingestiegen ist, bleibt – nicht selten zu seiner eigenen Überraschung – an der Geschichte dran.

Richard Calder

Richard Calder

Turboschreiberei in Nongkhai

Einen „ehemaligen Literaturprofessor“ nennt Dath in seinem Vorwort den Autor Calder, was übertrieben sein dürfte – Calder hat Literatur studiert (an der University of Sussex), aber nicht gelehrt. Geboren 1956, hatte Calder vor „Tote Mädchen“ diverse Kurzgeschichten veröffentlicht und darüber das Interesse eines Verlegers geweckt, der von ihm einen Roman wollte, den er in Thailand in nur sechs Wochen schrieb. Calder muss man sich dabei so vorstellen: Er sitzt in brütender Hitze nackt bis auf die Unterhose in einem kleinen Raum unterm Dach des Hauses, das er mit seiner Frau in Nongkhai bewohnt, schreibt den Text von Hand auf einem Stapel Papier, der sich von seinem Schweiß wellt. Kein Wunder wirkt der Roman, als hätte er es unglaublich eilig. Ausführliche Überarbeitungen fanden dann im kühleren England statt, wo „Dead Girls“ 1992 bei HarperCollins erschien. Für den Autor war der Roman der langersehnte Durchbruch. Ihm ist seither eine ganze Kollektion weiterer Bücher gefolgt.

Und nun auch, zehn Jahre später, die erste Calder-Übersetzung ins Deutsche.

Danke, Suhrkamp, sagen wir da. Vor allem aber: danke, Hannes Riffel! „Tote Mädchen“ ist eine dieser seltsamen Ausnahmen: Die deutsche Übersetzung übertrifft in der Vergleichslektüre das englische Original. Woran das liegt, ist schwer zu sagen. Die deutsche Sprachlandschaft entspricht Calders magischem Cyberpunk vielleicht besonders (spekulativ), oder Riffel ist ein Genie (gut möglich), oder Seitenlayout und Typo in der Suhrkamp-Ausgabe sind dem Leseerlebnis zuträglicher als der schrottige Satz in der St. Martin’s „Dead“-Trilogie (ganz bestimmt)? Wer grade eben aufgemerkt hat, dem sei bestätigt: Jawohl, es gibt eine Trilogie. Nach der thailändischen Dampfbad-Schreiberei hat Calder zügig nachgeliefert. 1994 folgten auf „Dead Girls“ „Dead Boys“, 1996 auf „Dead Boys“ „Dead Things“.

Next Step: Bimmelbahn

Ob Riffel mit einer weiteren genialen Übersetzung auch „Dead Boys“ auf die Sprünge helfen könnte, steht zu bezweifeln. Gleicht „Tote Mädchen“ einem Hochgeschwindigkeitszug, so liest sich „Dead Boys“ wie eine Bimmelbahn. Ein bisschen wirkt es, als hätte der Autor beschlossen, alle Fehler, die er im ersten Roman vermieden hat, hier zu begehen: Träger Einstieg, selbstgefällige Figurenzeichnung, eine Geschichte, die nicht weiß, wohin sie will. Er dödelt rum. Der Leser steigt aus. Calder-Fans im Netz beteuern allerdings, Durchhalten lohne sich.

Dietmar Dath. Fan #1

Kann sein. Diese Leserin steckt schon seit Tagen auf Seite 40 fest.

Und Dietmar Dath, Fan Nummer eins von Richard Calder? Er vermeidet in seinem düster-schwärmenden Vorwort jede Erwähnung der „Dead“-Folgebände. Stattdessen lockt er den Leser mit „Babylon“, Calders letztem Roman (von 2005). „‚Babylon′ ist die letzte Stufe der Calderschen Treppe aus verwunschenen Büchern, auf denen er emporgestiegen ist zur Opferstelle, wo wir unsere höheren Möglichkeiten unserer niedrigen Bereitschaft zum Fraß vorwerfen, uns mit konsumfrommem, trägem, einfallslosem Dreck abspeisen zu lassen.“ Die Aussage bleibt unklar (Ist damit ein besonders großes oder besonders flaches Leseerlebnis gemeint?), klingt deswegen aber nicht weniger verheißungsvoll. Wer allerdings Daths Lockruf folgen und nach „Tote Mädchen“ (das er recht überzeugend betrommelt) auch „Babylon“ lesen will, sollte sich auf Auslagen gefasst machen: Unter 40 Euro ist der vergriffene Roman gegenwärtig nicht zu haben.

Brigitte Helbling

Richard Calder: Tote Mädchen. (Dead Girls, 1992). Aus dem Englischen von Hannes Riffel. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch 2012. 242 Seiten. 11,99 Euro. Zur  Homepage von Richard Calder.

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