Geschrieben am 19. September 2012 von für Litmag, LitMag-Lyrik

LitMag-Weltlyrik: Ndjock Ngana

„Gefangenschaft”

von Ndjock Ngana

In nur einer Stadt zu leben,
in einem einzigen Land,
in einem einzigen Universum,
in nur einer Welt –
das ist eine Gefangenschaft.

Nur einen einzigen Freund zu lieben,
nur einen Vater,
nur eine Mutter,
nur einen einzigen Menschen –
das ist eine Gefangenschaft.

Nur eine einzige Sprache zu kennen,
nur eine einzige Arbeit,
eine einzige Kultur,
eine einzige Zivilisation,
nur eine einzige Logik zu kennen –
das ist eine Gefangenschaft.

Nur einen einzigen Körper zu haben,
nur ein Denken,
ein einziges Bewusstsein,
eine einzige Existenz zu kennen,
eine einzige Form des Seins –
das ist eine Gefangenschaft.

Übersetzt aus dem Italienischen von Carl Wilhelm Macke

Ndjock Ngana wurde 1952 im Kamerun geboren, hat aber das Land bereits 1973 verlassen und lebt seitdem in Italien. Er engagiert sich seit vielen Jahren für ein multiethnisches und multikulturelles Zusammenleben der verschiedenen Emigrantengruppen in Rom, in Italien, in Europa.

Daneben schreibt Ngana aber auch Gedichte und Erzählungen, in deren Mittelpunkt immer eine Vermischung seiner afrikanischen Herkunftskultur mit dem europäischen Kulturerbe steht, aus der heraus dann so etwas wie eine Art ‚Weltidentität‘ entsteht.

Das Gedicht „Prigione“ („Gefangenschaft“) fasst diese Überwindung einer einzigen Identität sehr gut zusammen. Hier sagt Ndjock Ngana in poetischen Worten genau das, was der indische Nobelpreisträger Amartya Sen in der Sprache eines Wissenschaftlers ausdrückt: „Viele der Konflikte und Grausamkeiten in der Welt beruhen (…) auf der Illusion einer einzigartigen Identität, zu der es keine Alternative gibt“ (in „Die Identitätsfalle“, München, 2007).

Carl-Wilhelm Macke

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