Man sollte ihn wieder ernst nehmen
— Eric Hobsbawm über Marx und den Marxismus, gelesen von Carl-Wilhem Macke.
Welcher Parteiführer der europäischen Linken hat in den letzten 25 Jahren den Kapitalismus in Frage gestellt? Niemand, nur eine öffentliche Person von Bedeutung hat dies getan: Papst Johannes Paul II. Der Zorn muss schon sehr groß sein, wenn ein mit allen Wassern des Marxismus getaufter Historiker wie Eric Hobsbawm so bitter über das Führungspersonal linker Parteien in Europa herzieht. Dass gerade ehemals linke Intellektuelle und Parteien in der Tradition der glorreichen Arbeiterbewegung das Werk des bärtigen Philosophen aus Trier heute am liebsten vergessen und verdrängen, wurmt Hobsbawm ganz besonders. Aber noch ist auch für hartnäckig an die Veränderung und Verbesserung der Welt Glaubende wie den alten Historiker aus Cambridge nicht aller Tage Abend.
Der Wind des Zeitgeistes scheint sich in den letzten Jahren wieder etwas zu drehen und die Neugierde auf Marx nimmt in der Epoche der Bankenpleiten und Rettungsschirme, der Hilflosigkeit neoliberaler Wanderprediger angesichts massenhaft zunehmender Arbeitslosigkeit in den kapitalistischen Kernländern zaghaft wieder zu.
Es soll heute sogar Banker und Erz-Kapitalisten geben, die bei der Erwähnung des Namens von Karl Marx nicht mehr gleich nach dem Saalschutz rufen. Aber wer weiß denn nach den vielen Jahren allseits, auch auf Seiten der politischen Linken, beliebter Verteufelung des Marxismus überhaupt noch, was Marx überhaupt vom Kapitalismus dachte? Wer kennt denn noch wenigstens die Namen derjenigen, die sich als Intellektuelle und/ oder als Politiker in der Tradition des Marxismus sahen?
Von der Generation der im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts geborenen Intellektuellen gehört der im Jahr der Oktoberrevolution im ägyptischen Allexandria geborene, in Wien und Berlin aufgewachsene, später dann nach England emigrierte Historiker Hobsbawm noch zu den ganz wenigen lebenden Zeitzeugen einer untergegangenen Epoche marxistischer Welterklärung.
Menschen wie er wollten die Ungerechtigkeiten und die Gewalt des „Zeitalters der Extreme“ (so der Titel einer großen Studie von Hobsbawm über das XX. Jahrhundert) nicht einfach hinnehmen. Man wollte die Welt verändern und der Marxismus wurde dafür als das wichtigste intellektuelle Instrument angesehen. Was Marx ihm persönlich bedeutete – und immer noch bedeutet – breitet Eric Hobsbawm in dieser Sammlung seiner Aufsätze zum Marxismus ausführlich aus.
Für dieses Festhalten am Marxismus, vor allem aber für seine oft allzu große Treue zu den Ideen der russischen Oktoberrevolution, ist Hobsbawm heftig gescholten worden. Der leider zu früh verstorbene Historiker Tony Judt hat den weltgewandten, ungemein belesenen Historiker Eric Hobsbawm gelobt, aber den bornierten linken Intellektuellen Hobsbawm heftig attackiert. er sei nicht bereit, „sich der finsteren Erbschaft des Stalinismus zu stellen.“ Auch wurde Hobsbawm von undogmatischen Linken immer wieder seine Aversion gegenüber neuen sozialen Bewegungen und seine unerschütterliche Treue zu der alten Arbeiterbewegung vorgeworfen. Vorbehalte gegen den „linken Traditionalisten“ Hobsbawm, die nicht unberechtigt waren und sind.
Trotzdem ist es auch für seine Kritiker, selbst für diejenigen aus dem eher konservativen intellektuellen Spektrum des wissenschaftlichen Diskurses, immer wieder eine erhellende Freude, seine Arbeiten zu lesen. „Wer so anspruchsvoll in die Historie aufgebrochen, ihr überall auf der Welt nachgegangen ist und ein reiches Wissen angesammelt und intellektuell durchdrungen hat, dem kann man gar nicht genug zuhören.“
Diesem Urteil über Hobsbawm des jeder besonderen Sympathie für Marx unverdächtigen Münchner Althistorikers Christian Meier kann man nach der Lektüre dieser Sammlung von Schriften über Karl Marx und seine Tradition nur zustimmen. Aber soll man sich freuen, wenn einige der pessimistischen Ahnungen von Marx und seinem treuen Schüler Eric Hobsbawm über die Entwicklung des kapitalistischen Systems heute immer noch und immer mehr aktuell sind? So gesehen, handelt es sich vielleicht sogar um ein traurig stimmendes Buch.
Man sollte, damit endet Hobsbawm seine große Ehrenrettung des Marxismus, den Alten aus Trier wieder ernst nehmen. Seine Analyse der brutalen Seiten eines sich global ausbreitenden Kapitalismus hat uns heute immer noch sehr viel zu sagen. Ob man mit diesem Wissen aber die Welt tatsächlich noch verändern kann und wer heute die Träger dieser Veränderung sein könnten, lässt Hobsbawm offen. Der Papst in Rom kann es ja nun nicht nur sein …
Carl-Wilhelm Macke
Eric Hobsbawm: Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus. Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn. Carl Hanser Verlag 2012. 448 Seiten. 27,90 Euro.