Mitmachen beim Krieg:
Vom Krieg erzählen zu wollen in der Absicht, hinter die massiven Verkrustungen aus Büchern, Filmen und Fernsehdokumentationen zu gelangen – dazu gehört nach fünfundsechzig Jahren viel Selbstvertrauen. Ist das Eigene überhaupt noch erreichbar? Kann man es anderen vermitteln? Dieter Wellershoff (der in der vergangenen Woche 85 Jahre alt wurde) ist dies gelungen, wie Gisela Trahms festgestellt hat.
Der künftige Schriftsteller Dieter Wellershoff ist vierzehn, als der Krieg beginnt. Hoffentlich dauert er lange genug, dass wir auch noch mitmachen dürfen!, seufzt ein Klassenkamerad. Er darf und wird von einem Kopfschuss zum Invaliden gemacht. Was hast du denn gedacht, fragt ihn Wellershoff später, als du merktest, dass dich die Kugel erwischt hat? Der Freund zuckt die Achseln: Ich dachte bloß, ach so ist das, das ist also ein Kopfschuss. Mit dieser Haltung stapft auch Wellershoff durch sein „Leben als Soldat“: „Ich dachte immer wieder, schau dir das an, schau es dir genau an, das ist der Krieg.“
Und so erzählt er auch. Kurze Episoden, präzise Details. Ganz einfach, ganz nah an dem, was geschieht. Die Stimme ist warm, in ihr schwingen jene Emotionen, die sich die nüchternen Worte nicht gestatten. Darin liegt der gewaltige Zugewinn der Mündlichkeit und des freien Erzählens. Wellershoff spricht schnell, drängend, dann wieder lakonisch. Manchmal hält er inne, als horchte er einem Wort nach oder schaute zurück auf die Szene. So wird das Staunen hörbar, das „Ja, seltsam“ oder „schrecklich“, das er unterdrückt. Für Sekunden bricht die Distanz des Fünfundachtzigjährigen zu dem jungen Mann auf, der dies alles erlebte, und auch das ist eindrucksvoll.
Lebensrettende Härte
Die Zwischenkriegsgeneration, der Wellershoff angehört, wurde auf den Krieg hin erzogen. Ihre Väter hatten im Ersten Weltkrieg gekämpft, auch Wellershoffs Vater, ein aktiver Offizier, den er voller Zuneigung porträtiert. Von der Mutter, „hysterisch und depressiv“, befreit er sich früh und nicht ohne Härte. Als ahne er, was ihm bevorsteht, internalisiert er das männliche Ideal. Es hilft ihm, das Innere zu panzern. Das erfordert schon die als endlos empfundene Ausbildungszeit, in der er Erschießungen mit ansehen muss und von Vorgesetzten gedemütigt wird. Einmal riskiert er den Hals, als er nachts in ein Kriegsbeutedepot einsteigt und Süßes klaut – im Bewusstsein der Lebensgefahr und doch bedenkenlos wie ein Kind, das unbedingt einen Genuss ergattern will.
Schließlich kommt er an die Front nach Litauen. Die Schilderung des völlig undurchsichtigen, sinnlosen Einsatzes mit Unterstand, Nachtwachen, Läusen, Mangelernährung und Sperrfeuer, in dem dieses letzte Aufgebot stirbt, erinnert an Stendhals Waterloo. Wellershoff überlebt dank einer Verwundung, die ihm ein paar Monate in der seltsam irrealen, friedlichen Welt eines bayerischen Lazaretts beschert. Kaum genesen, erlebt er Zusammenbruch und Kriegsgefangenschaft. Als er 1945 nach Hause zurückkehrt, ist er zwanzig.
Von Jetzt zu Jetzt
Thomas Böhm, Klaus Sander und Martin Schlappa, die schon aus den Erzählungen von Peter Kurzeck und Herta Müller ganz eigenständige Audio-Kunstwerke machten, haben die drei CDs klug rhythmisiert. Sie beginnen mit ein paar Kindheitserinnerungen, in denen Wellershoff das Umfeld seiner Jugend schildert, und enden mit kurzen Skizzen der Nachkriegszeit, so dass der Hörer langsam aus der Geschichte hinausgeleitet wird. Weder vor noch während noch nach dem Krieg geht es schrill zu, kein flammendes Inferno, kein Klagegesang, kein bevormundender Deutungsanspruch. Im Zentrum steht der Alltag, das Leben von Jetzt zu Jetzt.
Für Wellershoff liegt die Wahrheit im Tatsächlichen. Die „korrekte“ Rede, die die Gesellschaft im Laufe der fünfundsechzig Jahre entwickelt hat, um die Vergangenheit zu „bewältigen“, interessiert ihn nicht. Er ist weder auf brillante Formulierungen aus noch auf eine Diskussion von Schuldfragen. Die Wörter „Täter“ und „Opfer“ kommen nicht vor. Unverblümte, deskriptive Genauigkeit ist das Ziel. Das Urteil überlässt er dem Hörer.
Am Ende resümiert er staunend, welcher Abstand ihn vom Damals trennt, so dass er sich manchmal kaum darin erkennt. Aber: „Hätte ich das nicht erlebt, wäre ich nicht der geworden, der ich bin.“ Das bedeutet keine Verharmlosung, schon gar nicht eine Glorifizierung des Krieges. Wellershoff behält den klaren Blick: So war, für mich, der Krieg, so gehört er meinem Leben an.
Gisela Trahms
Schau dir das an, das ist der Krieg. Dieter Wellershoff erzählt sein Leben als Soldat. 215 Minuten. Box mit 3 Audio-CDs und Booklet. Berlin: supposé 2010. 29,50 Euro. Zur Verlagshomepage