Geschrieben am 14. November 2012 von für Bücher, Litmag

Klassiker-Check: Jorge Amado: Die Werkstatt der Wunder

Eine Liebeserklärung an die Mulatten von Bahia

– „Die Werkstatt der Wunder“, eine wahrhafte Liebeserklärung Jorge Amados an seine Heimat Bahia im Nordosten Brasiliens, erzählt die Lebensgeschichte Pedro Archanjos, eines dunklen Mulatten aus armen Verhältnissen mit außergewöhnlichem Kampfgeist und Überlebenswillen. Vier anthropologische Essays schreibt der fiktive Autodidakt und Freidenker zwischen 1907 und 1930 und lässt sie auf schlechtem Papier mit miserabel gesetzten Lettern unter größten finanziellen Schwierigkeiten drucken. Seine Bücher werden allerdings bald dem Vergessen anheim gegeben, passen sie doch nicht zum damals vorherrschenden wissenschaftlichen Diskurs, der Mischlinge zu Menschen zweiter Klasse oder gar Untermenschen degradiert. Sind wir darüber mittlerweile hinweg? Wissenschaftlich wohl schon aber ideologisch? Und ganz tief drin, wo die Urinstinkte einer jeden Spezies sitzen und sie dazu anheizen, ihr Territorium zu verteidigen, auch? Der leiseste Zweifel daran ist Grund genug, einen guten alten Klassiker abzustauben, dessen Aufruf gegen Rassismus zwar heute im Licht der historischen Distanz gelesen werden muss, der aber dennoch nichts an Aktualität eingebüßt hat. Von Doris Wieser

Bahia

Jorge Amado, ca. 1942

Jorge Amado widmet seine Literatur ganz dem Bundesstaat Bahia und insbesondere dessen Hauptstadt Salvador. Er ist damit einer der wenigen, die schon ab den 1930er Jahren der von den Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro beherrschten brasilianischen Leitkultur, eine regionale Kultur entgegengesetzt haben. Bahia ist nicht das moderne wirtschaftsstarke Brasilien der Wolkenkratzer, in dem sich Geschäftsleute per Hubschrauber von Landeplattform zu Landeplattform bewegen. Bahia ist damals wie heute ein wirtschaftlich zurückgebliebener Staat, geprägt von der kolonialen Plantagenwirtschaft und den Folgen der Sklaverei, ein Schmelztiegel von Rassen und Kulturen. Es fehlt an Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten; das Hinterland ist mit seinem semiariden Sertão unwirtlich, Wassermangel ein Dauerproblem. Nach der Begeisterung für die „regionalistische“ Literatur bis in die 1970er Jahre hinein, hat man heute wieder den Eindruck, dass die von den großen Metropolen entfernten Regionen literarisch in den Hintergrund gedrängt werden, zumindest auf dem internationalen Buchmarkt. Ein Grund mehr, Jorge Amado neu aufzulegen.

Pedro Archanjo

Der Arbeitsplatz des Protagonisten befindet sich in der Werkstatt des kuriosen Wundermalers Lídio Corró, der für Menschen arbeitet, denen ein Heiliger ein Wunder gewährt hat, das sie in einem Gemälde festhalten wollen. Die symbiotische Wahlverwandtschaft zwischen dem ausgelassenen, frivolen Archanjo und dem konstanten, loyalen Corró steht sinnbildlich für die Lebensauffassung der einfachen Leute Bahias, die alles so zu nehmen wissen, wie es ist, und lieber auf Seelenverwandtschaft setzen als auf erlauchte Stammbäume. In ihre Welt wird der Leser anhand eines kunterbunten Straußes an Begebenheiten eingeführt. Der Erzählrhythmus reißt einen mit wie Samba-Musik und spiegelt wider, wie diese Welt sich bewegt, entwickelt und miteinander kommuniziert. Trotzdem entsteht keinesfalls ein Durcheinander von Anekdoten und Figuren, vielmehr imitiert der Autor erzähltechnisch die übersprudelnde Lebensfreude der Bahianer.

James D. Levenson

Die Zeitachse von Archanjos Geburt bis zu dessen Tod (1868-1943) wird in eine zweite, später stattfindende Handlung eingebettet, die eine ironisch-kritische Reflexion über die Figur und vor allem über den Umgang der Gesellschaft mit ihr aus zeitlicher Distanz ermöglicht. Diese Doppelperspektive macht den Roman kurzweilig und motiviert zum schnellen, gespannten Weiterlesen, insofern als sich die Informationen nach und nach ergänzen und eine fein ziselierte Hauptfigur entstehen lassen. 1968 besucht der ebenfalls fiktive Nobelpreisträger James D. Levenson Bahia, um die Heimat des in seinen Augen genialen Anthropologen, Ethnologen und Soziologen Pedro Archanjo kennenzulernen. Ein Aufruhr fährt durchs Land: Wer ist dieser Pedro Archanjo? Außer seinen ehemaligen Weggefährten scheinen sich nur noch wenige, liberale Universitätsprofessoren an ihn zu erinnern. Die Zeitung „Jornal das Cidade“ versucht indes, Profit aus den Ereignissen zu schlagen und organisiert aufwändige Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag Archanjos. Nebenbei gesagt, ist es also kein Zufall, dass gerade dieser Roman zum 100. Geburtstag des Autors wieder aufgelegt wurde, übrigens in einer tadellosen Übersetzung von Karin von Schweder-Schreiner.

Das Arrangement der Zeitebenen eignet sich hervorragend dafür, der (damaligen) brasilianischen Gesellschaft, auf den Zahn zu fühlen und einen Teil ihrer Intelligenzija als unwissenschaftliche, rassistische und herrschsüchtige Schaumschläger zu entlarven. Nicht genug, dass erst ein Gringo kommen muss, um sie darauf aufmerksam zu machen, welche herausragenden wissenschaftlichen Leistungen ein „degenerierter Mischling“ aus Bahia hervorgebracht hat. Die Darstellung der Festveranstaltungen nimmt darüber hinaus immer mehr die Züge einer Gesellschaftssatire an, zeigt sie doch, wie man Archanjo zu Werbezwecken missbraucht, Reden zu seinen Ehren aber gegen seine Prinzipien hält und seine Lebensgeschichte in Schulaufsätzen bis aufs Nichtwiedererkennbare verbrämt.

Archanjos Kampf gegen Rassismus

Die Parallelschaltung der Zeitebenen verdeutlicht, dass all das, für das Archanjo so vehement kämpft, nämlich den Erhalt und die gesellschaftliche Aufwertung der afrobrasilianischen Kultur, fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod immer noch keine Selbstverständlichkeit ist. Und heute? Wer glaubt, Brasilien hätte seinen Rassismus überwunden, hat nur einen oberflächlichen Blick auf die Realität geworfen. Jorge Amado schildert ausführlich, wie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts versucht wurde, die Candomblé- und Macumba-Rituale sowie afrobrasilianische Karnevalsgruppen zu verbieten. Einer der eingesessenen, ehrwürdigen Professoren der Universität von Bahia, der fiktive Prof. Nilo Argolo, Schüler Lombrosos, Gobinaus und ihrer brasilianischen Pendants (Nina Rodrigues und Oscar Freire de Carvalho), vertritt die rassistische und faschistische Position am vehementesten: „All das, all diesen Dreck aus Afrika, der uns hier besudelt, werden wir aus dem Leben und der Kultur unseres Vaterlandes verbannen, notfalls auch Gewalt anwenden“ (S. 189). Er geht sogar so weit, einen Gesetzesentwurf auszuarbeiten, nach dem die Farbigen zunächst in Reservaten in unwirtlichen Gegenden Brasiliens isoliert werden sollen, um in einem nächsten Schritt nach Afrika abgeschoben zu werden: „Der Professor plante den Erwerb afrikanischer Gebiete durch die brasilianische Regierung, wo die gesamte schwarze und Mischlingsbevölkerung Brasiliens angesiedelt werden konnte. Eine Art Liberia, doch ohne die Fehler des amerikanischen Experiments, versteht sich“ (S. 355). Archanjo blamiert die Wortführer dieser Bestrebungen öffentlich durch seine „Aufzeichnungen über die Rassenmischung in Bahias Familien“, in denen er nachweist, dass keine der vermeintlich weißen Familien einen durchweg arischen Stammbaum besitzt, denn „ein reinblütiger Weißer in Bahia ist wie Zucker in der Siederei: hellbraun“ (S. 304).

Lombroso & Co.

In Punkto Gewalt und Verbrechen verwechselt die Menschheit häufig Ursache und Wirkung, wie an unzähligen Beispielen der Geschichte belegt werden kann. Diesbezüglich verficht Amado die Überzeugung, dass nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie, Kultur oder Religionsgemeinschaft die Individuen zum Verbrechen verleitet, sondern die gesellschaftliche Marginalisierung, die dieser Ethnie, Kultur oder Religionsgemeinschaft zuteilwird. Die fatale Koppelung der Hautfarbe an einen bestimmten gesellschaftlichem Status gehe in Brasilien sogar so weit, dass angesichts von Beispielen, die nicht in dieses Raster passen, ideologische Farbenblindheit entsteht: „In Brasilien, meine Freunde, werden Schwarze und Mulatten als Proletarier diskriminiert: Ein armer Weißer ist ein dreckiger Neger, ein reicher Mulatte ist ein blütenreiner Weißer“ (S. 209). Da die Menschheit dem Trugschluss, dass bestimmte Völker oder Kulturen mehr zum Verbrechen neigen als andere, weiterhin in regelmäßigen Abständen aufsitzt (siehe Sarrazin und Folgen), kann ein solcher Roman praktisch nie veralten, zumal er Unterhaltung auf hohem Niveau bietet und durch seinen sprachlichen Reichtum einen exzellenten Lesegenuss garantiert.

Apologie der Rassenmischung

Archanjo beschwört prophetisch die Rassen- und Kulturmischung als das künftige, rundum positiv konnotierte Identitätsmerkmal der Brasilianer schlechthin: „Eine Mischkultur wird sich herausbilden, so mächtig und jedem Brasilianer eigen, dass sie in das nationale Bewusstsein eingeht, und selbst die Kinder von eingewanderten Vätern und Müttern, Brasilianer in der ersten Generation, werden als Kulturmischlinge heranwachsen“ (S. 283). Der Autor, als dessen Alter Ego Pedro Archanjo gesehen werden kann, läuft manchmal jedoch Gefahr, die faschistischen Positionen in ihr Gegenteil zu verkehren und in einen „positiven Rassismus“ zu verfallen: „Durch die Vermischung entsteht eine Rasse mit so viel Talent und so großer Widerstandskraft, dass sie das Elend und die Hoffnungslosigkeit durch tagtägliches Kreieren von Schönheit und Leben zu überwinden vermag“ (S. 323). Aus heutiger Sicht müsste man zugeben: Genauso wenig wie Rassenmischung den Menschen degeneriert, wertet sie ihn auf. Vor dem Hintergrund der Zeit und der nötigen politischen Agenda zur Stärkung der Rechte der Farbigen auf freie Entfaltung ihrer Kultur, erfüllt diese Apologie der Rassenmischung jedoch eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Eine allzu deutlich formulierte politisch-ideologische Haltung schränkt die potenzielle Bedeutungsoffenheit eines literarischen Werks allerdings auch ein.

Anekdotenreichtum

Anders als bei seinen hispanoamerikanischen Kollegen der Boom-Generation (Carpentier, Fuentes, Cortázar, García Márquez, Vargas Llosa), die ihre großen Romane mit einem außerordentlich hohen Grad an Bewusstheit konzipieren und bei denen die architektonische Struktur und die Wahl der Erzählstimmen deutlich spürbar immer als Bedeutungsträger eingesetzt werden, scheinen die Geschichten bei Amado einfach so aus ihm heraus zu sprudeln, wie es gerade kommt. Unzählige Anekdoten über eine bunte Vielzahl von Nebenfiguren spannen einen weiten gesellschaftlichen Fächer auf. Dies unterscheidet Amado auf den ersten Blick von seinen formbewussten Generationsgenossen. Bei genauerer Betrachtung ist jedoch auch er ein Autor, der sich ganz klar für eine Erzählstrategie entscheidet: Mit seinem Figuren- und Episodenreichtum verleiht er dem Volk Bahias eine authentische Stimme.

Gelesen wurde Jorge Amado auch lange Zeit als Autor von Unterhaltungsliteratur, erklärt Henry Thorau in seinem Nachwort, was damit zusammenhängt, dass er an Liebesabenteuern nicht spart, die Schönheit der Bahianerinnen besingt und eine freie, genussorientierte Lebensweise zelebriert. Zugegebenermaßen kreiert er damit auf der Oberfläche ein exportfähiges Brasilienbild als das Land von Sonne und Samba. Damit erschöpft sich Amado jedoch keineswegs. Der Roman eignet sich wunderbar als Lektüre für Brasilienreisende, denen ein oberflächlicher Blick auf Karnevalsumzüge und Strände nicht genügt, sondern die in die Untiefen der brasilianischen Kultur auf eine leichtfüßige, vergnügliche und dennoch tiefgründige Art eintauchen wollen.

Doris Wieser

Jorge Amado: Die Werkstatt der Wunder (Tenda dos milagres, 1969). Deutsch von Karin von Schweder-Schreiner. Mit einem Nachwort von Henry Thorau. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2012. 432 S. 24,99 Euro.

Zur Stiftung Casa de Jorge Amado

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