Früher
Früher liebten wir uns
über dem Abgrund, wo anderntags
der Orientexpress von der Brücke
sprengte; die Wüsten Arabiens
durchrasten wir ohne Kompass und
kamen doch auf den erkorenen
Gipfel, betraten die Arche,
die keine Planken mehr hatte,
und kreuzten damit übers Meer;
bei der Ankunft im Hafen
der Albatrosse steckte der Frühling
uns an, und wir phosphoreszierten
mit den Hinterleibern der Leuchtkäfer
um die Wette; eine einzige
steingemeißelte Quetzalfeder
genügte uns, abzuheben
von dieser Welt. Früher
liebten wir uns.
Die 1926 in Breslau geborene Dagmar Nick gehört heute zu den letzten Repräsentantinnen der älteren deutschsprachigen Lyrikerinnengeneration (Rose Ausländer, Hilde Domin, Marie Luise Kaschnitz u.a.). Nach dem Krieg, den sie teilweise im Sudetenland verbrachte, floh sie nach München, wo sie auch bis heute noch lebt. So wie auch bei Wolfgang Bächler fand ihre Lyrik nie ein ganz großes Echo im breiteren Publikum, aber bei Lyrikkennern hatte sie immer einen ganz exzellenten Ruf. Den leichten, oft federleicht schwebenden Ton ihrer Liebes- und Abschiedsgedichte verliert man so schnell nicht aus dem Gedächtnis. „Nach Abzug der Trauer:/ hellere Fenster und eine Flaumfeder als Sänfte“. Dagmar Nicks Verse haben eine ganz eigene Musikalität, in der das Echo ihrer Herkunft aus einer sehr musikalischen Familie immer spürbar ist.
Carl Wilhelm Macke
Mehr zu Dagmar Nick finden Sie auf den Seiten des Poetenladen und auf der Seite des Rimbaud-Verlags. Foto: Rimbaud-Verlag.