„Sie sind der, der die Krankenschwester erschossen hat …“
Stimmt, das ist Raylan, der coole US-Marshal Raylan Given (von Timothy Olyphant gegeben), den Fernsehschauer aus „Justified“ kennen, einer Serie, die ihren Ursprung in einer Kurzgeschichte von Elmore Leonard hat, in der der smarte Marshal ohne nennenswerte Tötungshemmung zuerst auftaucht. Jetzt gibt es Raylan Given, der im sehr unglamourösen und von der Krise schwer gebeutelten Bergbaugebiet von Kentucky seines Amtes waltet, als Romanfigur. Obwohl – wie alles bei Großmeister Leonard – ist auch die Bezeichnung „Roman“ mit der gebotenen Skepsis zu betrachten. Thomas Wörtche betrachtet …
„Raylan“ – besteht aus drei „Episoden“, die durch den trigger-frohen Marshal und ein paar Nebenfiguren und über Zeit und Raum miteinander lose verbunden sind. Kein Masterplot, kein abgeschlossener Erzählbogen am Ende, nichts, was einem konventionellen Gattungsbegriff entsprechen würde. Das hat bei Leonard durchaus Methode und Sinn. Das Epische wäre machtlos gegenüber dem Zufälligen, Bizarren, Gleichzeitigen und Chaotischen, um das es in allen drei Erzählsträngen neben anderen Dingen auch geht: Um riesige Freiland-Marihuana-Plantagen, um eine Methode, lebendigen Leuten Organe zu stehlen und sie notfalls an die Opfer zurückzuverkaufen, um die Machenschaften eines Bergbaukonzernes, auch unter Einsatz blanker Gewalt riesige Latifundien zusammenzukaufen, um eine Girlie-Gang von Bankräuberinnen, um den privaten Rachefeldzug eines Gangsters gegen den schießfreudigen Raylan Givens, um organisiertes Glücksspiel und um eine blutjunge, geniale Zockerin, mit der Givens fröhlich in der Kiste landet. Und es geht, wie fast immer, auch um Frauen, die in keine Klischeekiste passen. So wie man auch nie wissen kann, ob Leonard Genre liefert oder non-Genre oder ob das alles nicht völlig egal ist.
Dabei wird, wie oft bei Leonard, beiläufig getötet und über Ungeheuerliches, wie zum Beispiel die Nierenentnahme bei lebendigem Leib, genauso beiläufig geplaudert wie über Wetten und andere normale Dinge des Alltags. Ob Verbrecher, Ordnungshüter, Konzernmanager(in), Leibwächter oder Bergmann – man kennt sich, man sieht sich, man plaudert, man tötet sich. Daraus entstehen die berühmten Leonard´schen Dialoge, die ihn (wie seinen Kollegen George V. Higgins) zum großen Inspirator von Quentin Tarantinos dialoglastigen Action-Filmen gemacht haben.
Sinn und Provinz
Aber das ist nur ein Aspekt. Wie nur wenige andere Autoren findet Elmore Leonard in der gewalttätigen, waffenstrotzenden, „hinterwäldlerischen“ amerikanischen Provinz-Gesellschaft außerhalb der großen intellektuellen Metropolen New York und Los Angeles, seine Stoffe. Er fügt sie dann unspektakulär, stets komisch, lakonisch, entspannt und unhysterisch zu Gegenwartspartikeln zusammen, die sich den großen Sinnfragen und Moraldiskussionen zugunsten einer neugierigen, hellwachen und brillanten Bestandsaufnahme des Hier und Jetzt verweigern. Sein gewaltiges Gesamtwerk zusammengedacht steht den Mega-Projekten von Balzac oder Zola keinesfalls nach. Es ist nur pointierter und pointillistischer, auch wenn es nicht minder sensibel und präzise die Verwüstungen und Verheerungen einer Zivilisation kartografiert, die zwischen brutalen Atavismen, merkantiler Schläue und systemischer Verrottung von Seelen und Landschaften hin und her taumelt. Aber das sagt Leonard so nicht, er zeigt es mit seinen Storys, seinen Typen, seinen Dialogen und vor allem mit seinem Witz, der sich über so ziemlich alles leise lustig macht und heiter sämtliche „Werte“, Ideologien und feste Weltbilder sabotiert.
Dass Elmore Leonard 1925 geboren ist, also auf die 90 Jahre zugeht, merkt man dem Buch in keiner Zeile an.
Thomas Wörtche
Elmore Leonard: Raylan (Raylan, 2012). Roman. Deutsch von Kirsten Risselmann. Berlin: Suhrkamp nova, 2013.308 Seiten. 19,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Elmore Leonard bei culturmag und kaliber38.