Immer die Nase im Wind
Nachruf auf Lutz Schulenburg, Verleger der Edition Nautilus. Von Tobias Gohlis.
Er hatte immer ein Päckchen Tabak und einen Stift in der Brusttasche. Die Drahtbrille, durch die er unternehmungslustig, amüsiert und provokant in die Welt guckte – he, wo ist die nächste Herausforderung – und die weiß gewordenen langen Haare waren sein Erkennungszeichen: Lutz Schulenburg, Verleger, seit vierzig Jahren unterwegs im Büchermeer. Buchmessen machten ihm immer Kopfschmerzen. Auch in diesem Jahr dachte er, aus der Leipziger Hektik zurück in der Hamburger Wohnung, die Schmerzen würden nach einem guten Schlaf schon abklingen.
Dann der Notarzt, die stundenlange Operation: Gehirnblutung, Schlaganfall. Doch schon wenige Tage später schrieb Gefährtin Hanna Mittelstädt an die Freunde: „Jetzt mal eine gute Meldung: Lutz war gestern zu umfangreichen Nachuntersuchungen im Krankenhaus und heute bei einem Neurologen: es scheint jetzt keine weiteren Komplikationen zu geben, das Gehirn scheint stabil.“ Umso erschütternder ihre Nachricht vom 2. Mai: „Lutz hat es doch leider nicht geschafft, am Leben zu bleiben. Er ist am 1.Mai frühmorgens gestorben.“ Wenige Tage zuvor, zum 21. April, hatte sie eine Kurzbiographie zu Lutz’ sechzigstem Geburtstag herumgeschickt, voller Hoffnung.
Mit Lutz Schulenburg hat uns ein großer Verleger verlassen, ein tapferer und aufrechter Mann, wie es ihn selten gibt.
Als ich 1988 nach Hamburg kam, war die Edition Nautilus eine der ersten Adressen, die mir genannt wurden: als Anlaufstelle für Besonderes. Nach meinem ersten Besuch in der Bergedorfer Verlagsbehausung – ich erinnere mich an durchhängende Regalbretter, Schreibtische aus Türblättern, Bücherkisten, Umzugskartons und eine überwältigende Freundlichkeit für den hereingeschneiten Gast – zog ich reich beschenkt davon mit einem Stapel der schönsten Bücher, die es damals gab: die „Kleine Bücherei für Hand und Kopf“.
Das, was die Insel-Bücherei nach dem Ersten Weltkrieg war, ein Vademecum für Sinn und Verstand, war diese inzwischen auf 60 Bände angewachsene Reihe für die 80er und 90er Jahre: intellektuelle Sprengsätze gegen Behäbigkeit, klein genug, um sie in der Brusttasche nah am Herzen zu tragen. Es waren Texte und Bilder einer noch nicht klassischen Moderne, von bildenden Künstlern, Dichtern, Spöttern, aufsässig, lässig, auf hinterhältige Weise offen für Morgen. Ehrensteins „Tubutsch“ war dabei, futuristische und situationistische Manifeste, Stories des Anarchisten Sean McGuffin mit Titeln wie „Bomben, Bullen, Bars“. Einer der ersten Titel waren natürlich Aphorismen von Francis Picabia. Sein Ausspruch „Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“ ist seitdem Verlagsmotto.
Ich hörte in Bergedorf von Autoren, deren Namen ich nicht einmal kannte, von Franz Jung etwa, über den Lutz mit der hochfahrenden Geste des Eingeweihten redete. Ich wagte nicht zu widersprechen. Diesem Unangepassten, dessen Zeitschrift „Der Gegner“ hieß, hat die Edition Nautilus in sechzehn Jahren eine zwölfbändige Werkausgabe erarbeitet. Lutz Schulenburg schaffte das nicht allein, Hanna Mittelstädt war über vierzig Jahre lang seine Gefährtin, Pierre Gallissaires erweiterte den Horizont Richtung Frankreich und Spanien. Aber Lutz, der bei der Vorstellung der kleinen Krimi-Reihe „Kaliber 64“ vor Begeisterung durch die niedrige Decke des Speicherstadtmuseums gehen konnte, war mit seiner Ungeduld, seiner Entschiedenheit, seiner Klarheit der Motor des Unternehmens.
A propos Ungeduld. Ich werde nie vergessen, wie ich eines Tages um die Mittagszeit zu einer Besprechung nach Bergedorf kam und plötzlich alle begannen, einen großen Klapptisch freizuräumen und Stühle herbeizuschleppen. „Was ist denn jetzt los?“ fragte ich Lutz, mit dem ich in eine dieser grundsätzlichen Diskussionen verwickelt war, in die man leicht mit ihm geraten konnte. „Mittagspause!“, grinste er. Und alle setzten sich an den Tisch und aßen gemeinsam. Auf und ab – das kannte der Verlag seit Jahren. Aber niemals wurde die Mittagspause ausgelassen, auch wenn es finanziell nur zu Butter und Brot reichte. Das hat Stil.
Unbeirrt zog Lutz seinen Weg, publizierte Biographien von Bakunin und Emma Goldman, den Wälzer „Anarchie“ von Horst Stowasser, Erinnerungen ehemaliger RAF-ler, gab (nicht immer viermal im Jahr) „Die Aktion“ heraus. Auf 30 Jahrgänge hat sie es gebracht. „Gegründet von Franz Pfempfert, Berlin 1911-1932. Neu gegründet 1981. Herausgegeben von Lutz Schulenburg“ heißt es selbstbewusst im Editorial. In Auseinandersetzung mit einem Taz-Redakteur, der das Manifest „Der kommende Aufstand“ als rechte Kampfschrift übel attackiert hatte, heißt es unmissverständlich in der letzten Ausgabe: „Die Edition Nautilus ist ihrem Selbstverständnis nach der libertären Tradition verbunden. Dem freiheitlich-revolutionären Denken und der daraus entspringenden Praxis für eine Gesellschaft ohne Klassen und staatsbürokratische Institutionen, wie sie sich in der Geschichte der internationalen sozialrevolutionären Bewegung ausgeprägt hat. (…) »Rechtsradikale« Bücher erscheinen ebenso wenig in der Edition Nautilus wie Bekenntnisschriften von Berufspolitikern oder religiösen Reaktionären etc.“
Dieses Programm fast vierzig Jahre durchzuhalten, verlangte nicht nur unerschütterlichen Optimismus und mitreißendes Vertrauen in die Veränderungs- und Vernunftfähigkeit der Menschen, sondern auch eine gute Portion Gerissenheit. Jahrelang klingelte die Verlagskasse nur einmal im Jahr. Dann aber programmerhaltend gründlich: immer, wenn zu Silvester auf allen Kanälen „Dinner for One“ lief – die Edition Nautilus hatte sich die deutschen Wortrechte gesichert.
Näschen bewies Lutz immer wieder: Der großartige Abbas Khider führt die aktuelle Rechteliste an, Jochen Schimmang hat bei Nautilus eine neue Heimat gefunden. Occupy-Aktivist David Graeber ist Nautilus-Autor, die russische Gruppe Pussy Riot ebenfalls. Bevor das afrikanische Land im letzten Jahr Kriegsschauplatz wurde, hatte Lutz Schulenburg bereits Christof Wackernagels Kriminalroman „Der Fluch der Dogon“ veröffentlicht, der in Mali spielt.
Überhaupt die Krimis: Als Andrea Maria Schenkels „Tannöd“ 2006/7 zum riesigen, auch ökonomischen Erfolg wurde, hatten nur Spezialisten die Edition Nautilus als Krimiverlag auf dem Schirm. Dabei war hier – und nur hier im deutschsprachigen Raum – Leo Malets surrealistisch beeinflusste „Trilogie Noire“ erschienen, der wilde Malet, nicht der brave Touristenführer, der mit Nestor Burma die Pariser Arrondissements abklapperte. Und später die raffinierte Trilogie Patrick Péchérot, die wiederum Nestor Burmas Vorgeschichte angelehnt an Malets Biographie krimi-fiktionalisierte. Die kleinen, bissigen Hefte vom „Kaliber .64“ hielten die Tradition der kurzen Krimi-Erzählung hoch, Autoren waren u. a.: Robert Hültner, Friedrich Ani, Frank Göhre. Und Robert Brack, der unglaublich kluge, in die reale Geschichte hinein erzählte, ultrapräzise historische Fiktionen entwickelt (zuletzt der Reichstagsbrand-Roman „Unter dem Schatten des Todes“), hat den radikalsten Teil seines umfangreichen Werks Lutz Schulenburg anvertraut.
Lutz Schulenburg, der großherzige, aufrechte, unerschütterlich widerständige, aufbrausende Verleger hatte auch noch eine idyllisch-kleingärtnerische Seite. Von einer alten Dame, die wohl die erste Kapitänin der deutschen Handelsmarine war, haben Hanna Mittelstädt und er ein Häuschen in den Elbmarschen übernommen. Dorthin radelten die beiden – strikte Nutzer der Öffentlichen – am Wochenende, um ohne Telefon und mit Blick auf die vorbeiziehenden großen Pötte auszuruhen. Nur einen Nachteil hat dieses Domizil: Es liegt zwar im Grünen, aber zu tief. Immer, wenn der Westwind die Elbe zur Sturmflut staute, musste Lutz raus, um das Häuschen gegen das anbrandende Elbwasser zu sichern. So werde ich den Kapitän dieses tollen Verlages in Erinnerung behalten: immer die Nase oben, ob im Büchermeer oder in der Sturmflut.
Tobias Gohlis
Aufmacherfoto: © Margrit Philipp