Die Straße
Ich seh‘ mir eine Straße meiner Stadt an,
durch die ich tausend Male schon gegangen bin,
und mir kommt vor, ich habe sie niemals angeschaut.
Die blassgelben Fassaden, die Geschäfte,
die Bar, Autos und das bisschen hin und Her.
Gerade so wie unser Leben: gelebt,
am Ende schon und doch so unvertraut.
Aus dem Triestiner Italienisch von Hans Raimund
Schreibt jemand in seinem heimatlichen Dialekt, so scheint – zumindest im deutschsprachigen Raum – das Urteil schon festzustehen: fast immer wird Dialektdichtung mit „Heimattümelei“ oder „Naivität“ oder „Kitsch“ in Verbindung gebracht. Viel Nostalgie nach den alten Zeiten, als man noch auf den Dörfern oder in den Hafenkneipen selbstverständlich und ausschließlich Dialekt sprach, ist fast immer dabei. In Italien war es vor allem Pier Paolo Pasolini, der mit seinen Plädoyers für das dialektale Schreiben eine Brücke zwischen Provinz und Urbanität, zwischen Tradition und Moderne errichtet hat.
Und einer dieser Schriftsteller, die fast ausschließlich im Dialekt ihrer Herkunftsregion Gedichte schrieben, die im Sinne von Pasolini eben nicht in der Vergangenheit eines angeblich besseren Gestern verharrten, war Virgilio Giotti. Geboren wurde er 1885 in Triest, dem Brückenkopf zwischen Italien und dem Balkan. Pasolini spürte in den Gedichten von Giotti die „Dimension des Schmerzes“ so stark wie in kaum einem anderen Werk seiner Zeitgenossen. Als Giotti 1957 starb, hinterließ er kein umfangreiches Werk, aber seine Gedichte haben alle Moden in den Jahrzehnten nach seinem Tod überstanden und werden immer wieder neu entdeckt.
In dem kleinen, besonders wegen seiner Aufmerksamkeit für die Literatur von Minderheiten sehr verdienstvollen „Drava“-Verlag aus Klagenfurt, ist jetzt ein liebevoll gestalteter Band mit Gedichten von Virgilio Giotti erschienen: „Kleine Töne, meine Töne“. Ergänzt wird die Gedichtauswahl mit einigen „Unnötigen Notizen“, die den Ton der Poesie nachhallen lassen in Tagebuchaufzeichnungen aus dem ersten Jahrzehnt nach dem Ende des II. Weltkrieges.
In einer Zeit allgemeiner Vereinheitlichung aller Sprachen und Lebensstile bekommen Verlage wie „Drava“ in Kärnten, die sich nicht scheuen, in Dialekt schreibende Einzelgänger aus Grenzregionen wie Virgilio Giotti zu edieren, einen ganz besonderen Wert. Fünf, sechs Gedichte von Giotti gelesen, das sind diese „minuti de felezità par mi“, „zehn Minuten Glück für mich“ (Virgilio Giotti).
Carl Wilhelm Macke
Foto: Wikimedia Commons, Quelle.