Geschrieben am 21. August 2013 von für Bücher, Litmag

Karl-Markus Gauß: Das Erste, was ich sah

Karl-Markus Gauß_Das Erste was ich sahExpedition in die Tiefe der Erinnerung

– Ist es Zufall, dass einem bei der Lektüre der Kindheitsgeschichten von Karl-Markus Gauß immer auch Walter Benjamin einfällt? Diese Assoziation ist nicht übertrieben, nicht eine Nummer zu groß. Da schreibt einer, den wir vornehmlich als literarischen Botschafter des „anderen, an den Rand unserer Aufmerksamkeit gedrängten Europas“ kennen, über eine Reise in die vergessenen Winkel seiner Autobiographie und immer fühlen wir uns da auch an die Kindheitsszenen bei Walter Benjamin erinnert. Von Carl Wilhelm Macke.

Gauß kopiert in seinen Texten nicht Benjamin, sondern er schreibt in dessen Tradition ganz eigene Erinnerungen, die von der ersten Zeile an den Leser berühren und ihn stimulieren zu eigenen biographischen Rückblicken. Wer, wie der Rezensent, in den gleichen Jahren aufgewachsen ist, wird in diese literarischen Rückblicke von Gauß hineingesogen von der ersten bis zur letzten Seite.

Hier rechnet keiner ab mit seiner Herkunft, mit seinen kleinbürgerlichen Wurzeln, den Nazis, dem Klerus oder wer sonst noch die ersten Kindheitsjahre geprägt hat. Von dieser Art Erinnerungsliteratur gibt es inzwischen genügend Bücher und ihr literarischer wie zeithistorischer Wert nimmt mit jedem Jahr ab. Besonders die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurden und werden immer noch in einer nicht mehr angemessenen Art verklärt und zum Maßstab aller Dinge heute ernennt.

Gauss, geboren 1954 in Salzburg, beteiligt sich nicht an dieser Glorifizierung des goldenen Zeitalters des Protests und der Kulturrebellion. Stattdessen steigt er ganz tief hinab in seine Kindheitsjahre in einem Salzburger Mietshaus, die scheinbar von einer großen Langeweile und Normalität überwölbt waren. Aber die Größe und das Können eines Schriftstellers zeigen sich ja besonders dann, wenn er Worte findet, die das scheinbar unspektakuläre einer Szene oder eines Milieus in die Phantasie der Leser übersetzen. Wenn das Kind, von dem hier erzählt wird, etwa am Radio sitzt und die dort mit sonorer Stimme vorgetragenen Suchanzeigen von im Krieg verschollenen Menschen anhört. Und schon ist man nur mit dieser kurzen Erinnerungsszene mittendrin in der Dramatik jener Nachkriegsjahre, in der so viele Familien noch unter den Wunden und den Verlusten des Krieges gelitten haben.

Oder wenn Gauß fast ein wenig lapidar davon erzählt, dass er unter Generälen aufwuchs. Generäle, die aber nicht zu seinen Verwandten oder Vorfahren zählten, sondern nach deren Namen die Straßen seines Salzburger Wohnviertels benannt waren: „Die ganze Siedlung mit ihren vier Höfen war zu Beginn des Zweiten Weltkriegs errichtet worden, um für die aus Italien ausgesiedelten Südtiroler Wohnraum zu schaffen, und unsere, die wichtigste Straße, verdankte ihren Namen dem vielbesungenen Sieger auf den italienischen Schlachtfeldern von Custoza, Mortara und Novara, General Joseph Wenzel von Radetzky. Lauter Sieger, sagte Vater, und trotzdem hat Österreich den Krieg verloren.“

Karl-Markus Gauß 2010

Karl-Markus Gauß 2010

Genaue Erinnerungen an Alltagsgegenstände und Alltagssituationen

Ganz wunderbar und für die heutige Generation der selbstverständlichen Handy-Benutzer fast abenteuerlich erscheinende Erinnerung an das Leben mit nur einem Festnetztelephon: „Der schwarze Apparat stand im Vorzimmer nahe der Eingangstür auf einem kleinen, in die Wand geschraubten Brett, hatte einen Hörer, der auf einer geschwundenen Gabel auflag, eine Wählscheibe, auf der von oben rechts gegen den Uhrzeigersinn bis unten die Zahlen von 1 bis 9 weiß im Halbkreis standen, und einem Knopf am Gehäuse.“

Diese sehr genaue Erinnerungen auch an Dinge, an Haushaltsgegenstände, an Alltagsgewohnheiten (wie das Teppichklopfen oder das immer gemeinsam eingenommene Mittagessen) lesend, erkennt man auch von Seite zu Seite mehr, was sich in unserem Leben in den letzten Jahrzehnten geändert hat. Das Werturteil über diese Veränderungen überlässt der Autor den Lesern seiner Kindheitserinnerungen selber.

Gauß, der in seinen bisher erschienenen Reisereportagen und Journalen keiner manchmal auch scharf formulierten zeitaktuellen Polemik aus dem Wege geht, hält sich in diesem Erinnerungsbuch mit eigenen Urteilen fast vollkommen zurück. Dafür nimmt er die Leser auf eine bewegend leichte, aber niemals seichte oder nostalgische „Expedition in die Tiefe der Erinnerung“ mit. Nein, es ist kein Zufall, dass ein Zitat von Walter Benjamin am Schluss dieser Rezension eines wunderbaren Buches steht…

Carl Wilhelm Macke

Karl-Markus Gauß: Das Erste, was ich sah. Zsolnay-Verlag, Wien 2013. 108 Seiten. 14,90 Euro. Foto: Wikimedia Commons, Lizenz: Creative Commons 3.0, Autor: Wolfang H. Wögerer, Quelle.

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