Mutter Bär ist nicht zu trauen
– Lange war es vergriffen, nun hat der Hamburger Aladin-Verlag „Der kleine Bär“ in einer neuen Übersetzung herausgebracht. „Little Bear“, mit Illustrationen von Maurice Sendak („Wo die wilden Kerle wohnen“), war das erste Buch, das unsere Autorin selber lesen konnte. Auf Englisch – schließlich lebte sie damals in den USA. Grund genug, sich über eine Katze mit Hut, lesepädagogische Verfahren, die Fibel „Fun with Dick and Jane“ und die Frage, inwieweit Mutter Bär zu trauen ist, Gedanken zu machen. Von Brigitte Helbling.
Als ich im Jahr 1966 in New Jersey, USA, eingeschult wurde, hieß die Fibel, mit der alle amerikanischen Erstklässler seit den 1930ern in die Kunst des Lesens eingeführt wurden, „Fun with Dick and Jane“.
Spaß mit Dick und Jane (und ihrem Hund, Spot) sah so aus:
See Dick run.
Run, run, run.
See Jane run.
Run, run, run.
Die Fibel ging nach der sogenannten „Look-Say“-Methode vor, mit der sich Erstleser über Wortwiederholungen einen Grundstock an Wörtern einprägen. Im Englischen ist das Memorieren von Wortbildern nicht die schlechteste Art, sich an die Kunst des Lesens heranzutasten: Es gibt in der Sprache sehr viele einsilbige Worte mit drei oder vier Buchstaben, und umgekehrt werden viele Worte oft anders geschrieben, als die Aussprache es nahelegen würde: Anders als im Deutschen lässt sich die Schreibweise im Englischen nur sehr bedingt aus dem Klangbild ableiten.
Umgekehrt hatte „Dick and Jane“ mit seinem Nachdruck auf Repetitionen (See Spot run / run, run, run) vielleicht eins zu wenig bedacht: Worte lernen konnte man mit dieser Fibel durchaus. Aber Gründe, sich die Kunst des Lesens anzueignen, boten seine tristen, und in den endlosen Wiederholungen durchaus auch kryptischen Alltagsberichte kaum.
Eine anarchische Katze mit Hut
Der Vorwurf, die „Dick and Jane“-Fibeln würden die Fantasie von Erstlesern – und damit ihre Leselust – zu wenig anregen, kam spätestens Mitte der 1950er auf, nachhaltig über die Studie, „Why Johnny Can’t Read“, in der ein aus Österreich geflohener Anglist, Richard Flesch, „Dick and Jane“ als ein wesentlicher Grund für die miserable Leseleistung eines ganzen Landes ausmachte. Den Einsatz der Fibel im Unterricht – gehe ich von meinen Grundschulerfahrungen aus – scheinen solche Studien nicht verhindert zu haben. Immerhin aber entstanden Ende der 1950er eine ganze Anzahl Bücherreihen für Erstleser, mit denen Verlage den (kommerziell einträglichen) Nachweis erbrachten, dass ein beschränktes Lesevokabular noch lange keine langweilige Geschichte bedeuten muss. Das bekannteste Resultat solcher verlegerischen Unterfangen ist zweifellos „The Cat in the Hat“ von Dr. Seuss, der mit 236 Worten eine der anarchischsten Geschichten – und dann auch noch gereimt! – die je in die Welt der Kinderbücher Einzug hielt, geschrieben (und gezeichnet) hat.
Ich mochte „The Cat in the Hat“, anders als spätere Bücher von Dr. Seuss, nicht besonders –hauptsächlich deswegen, weil die Geschichte eine Menge Stress transportierte. Zwei Kinder, deren Eltern nicht zuhause sind, langweilen sich an einem Regentag und wünschen sich Unterhaltung herbei. Die kommt in der Person einer Katze mit Hut, die im Haushalt ein gigantisches Durcheinander anrichtet. Den Kindern scheint das Spaß zu machen, der Goldfisch im Glas dagegen warnt: Das wird der Mutter aber gar nicht gefallen! Was sagt sie bloß, wenn sie wiederkommt? Und so weiter. Die Reden des Goldfischs, gebe ich zu, leuchteten mir ein, da halfen auch die wilden Reime (und der gute Ausgang der Geschichte) wenig. Eine Katze mit Hut hätte ich zumindest zuhause nicht haben wollen. Was ich und alle amerikanischen Kinder, die mit den Büchern von Dr. Seuss aufgewachsen sind, dagegen mitbekommen haben, war das pure, melodiöse Potential von (Reim)Sprache. Englisch wurde für mich zu einer Sprache des Klangs (und das ist sie bis heute geblieben).
Unsere Schule arbeitete weiter mit „Dick and Jane“, aber ich vermute, unsere Lehrer waren von ihrem Nutzen nicht sonderlich überzeugt. Im Schulgebäude gab es eine (in meiner Erinnerung) riesige Schulbibliothek, und alle Kinder, die die erste Fibel einigermaßen entziffern konnten, wurden während der Lesestunden dorthin geschickt, um auf eigene Faust weiter zu buchstabieren. Wurden wir von irgendjemandem betreut? Vermutlich, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann. Ich las – ich wollte alles lesen, was in diesem Raum stand. Und das erste Buch, das ich ganz alleine gelesen habe, war „Little Bear“ von Else Holmelund Minarik, mit Illustrationen von dem damals noch jungen Maurice Sendak.
Ein Bär für jedes Kind
„Little Bear“ erschien im selben Jahr wie „The Cat in the Hat“, nämlich 1957, was dieses Jahr zu einer Art Sternstunde der amerikanischen Kinderbuchliteratur macht. Beide Bücher waren jeweils als Auftakt für eine Erstlese-Reihe zweier unterschiedlicher Verlage in Auftrag gegeben worden, beide Bücher haben diesen Verlagen viel Geld eingebracht. Die Autorin von „Little Bear“, Else Holmelund MInarik, war eine Grundschullehrerin, die die Geschichten zunächst für ihre Tochter geschrieben hatte und später auch im Unterricht benutzte. Der Erfolg bei den Schülern ermutigte sie, die Geschichten einem Verlag in New York vorzustellen. Der Verleger wollte das Buch allerdings nur, wenn Minarik die Bären durch Menschen ersetzte – und dagegen war sie entschieden. Kinder aller Hautfarbe sollten sich mit der Hauptfigur identifizieren können, erklärte sie später in einem Interview, und Bärenjungen fand sie nun einmal besonders süß. Ein nächster Verleger ließ sich überzeugen und stellte ihr Maurice Sendak als Illustrator zur Seite – der Beginn einer Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält.
250 Worte hat Minarik für den ersten Band von „Little Bear“ benutzt. Anders als in „Dick and Jane“ stellt sich hier die Frage nie, warum ein Kind die Geschichten weiterlesen sollte. Auf eine stillere Art als in „The Cat in the Hat“ wird im Text von „Little Bear“ eine Menge Dramatik entwickelt – die die Bildwelten von Maurice Sendak dann noch einmal exponentiell vergrößert.
Was soll der Kleine Bär anziehen?
Allein schon die erste Geschichte! Draußen schneit es, und der kleine Bär friert. Von seiner Mutter verlangt er Kleider, und sie „macht“ ihm erst eine Mütze, eine Jacke und dann eine Hose; zieht ihm am Ende alles wieder aus und lässt ihn in seinem Pelz vor dem Haus spielen – worauf ihm nicht mehr kalt ist. „Was sagst du dazu?“ fragt die Geschichte am Ende.
Eine Menge, hätte die Antwort lauten können. Zum Beispiel: Warum braucht der Kleine Bär keine Kleider, wo seine Mutter doch auch welche (ein bodenlanges Kleid, und darüber eine Ärmelschürze) trägt? Wie fertigt Mutter Bär so schnell die Kleidungsstücke an, die der Kleine Bär braucht? Und – wenn wir schon dabei sind – was ist das für ein schwarzes Buch, das Mutter Bär gegen Ende der Geschichte liest, und können Bären überhaupt lesen?
Heute vermute ich, mit dem kleinen schwarzen Buch war eine Bibel oder ein Katechismus gemeint. In „Little Bear“ sind Sendaks Bilderwelten rückwärtsgewandt, die Kleidung viktorianisch angehaucht, der häusliche Alltag nicht weniger. Gekocht wird auf Feuer, und die Nähmaschine, die man in der dritten Geschichte zu Gesicht bekommt, ist ein Möbelstück mit einem Tretmechanismus. Meine Großmutter in der Schweiz hatte eine solche Nähmaschine, und der Eingang zu ihrem Haus sah aus wie bei Mutter Bär, und auch das Bett, in dem wir in den Ferien bei ihr schliefen, war mit Laken und Kissen und Decken genauso eingebettet wie das Bett des Kleinen Bären. Das Buch beschrieb für mich damals so sehr die Schweizer Heimat, dass ich, hätte man mich gefragt, vermutlich nicht sicher gewesen wäre, ob meine Großmutter nicht ebenfalls auf einer Feuerstelle kochte – so wie der Kleine Bär, der für seine Freunde eine Suppe zubereitet, weil er glaubt, seine Mutter habe seinen Geburtstag vergessen.
Geburtstagssuppe
Die Geburtstagssuppe: Natürlich dachte ich im Zusammenhang der zweiten Geschichte im Buch – über den Geburtstag des Kleinen Bären – auch viel darüber nach, wie denn diese Suppe gelingen könne, wo man doch in Sendaks Feuerstelle nie den Funken eines Feuers sah. Die Frage trat allerdings hinter ein anderes, weit beunruhigenderes Rätsel zurück: Konnte es denn sein, dass Mutter Bär den Geburtstag des Kleinen Bären tatsächlich vergessen hatte? War es vielleicht nicht mehr als eine Ausrede, wenn sie am Ende mit einer Geburtstagstorte mit sechs brennenden Kerzen hinter der Tür auftaucht (zu spät, zu spät, die Torte gab’s bei uns doch immer schon beim Frühstück!) und behauptet:
„Die Geburtstagstorte ist eine
Überraschung. Deinen Geburtstag
würde ich nie im Leben vergessen.“?
Der Kleine Bär fliegt zum Mond
Während „The Cat in the Hat“ den Sprung in die deutschsprachige Kinderbuchwelt nie richtig geschafft hat – zu eigenwillig, zu sehr lesepädagogische Wortspielerei, bleibt dieser durchgedrehte, zuallererst über Klang und einsilbige Worte funktionierende Text – kam „Der Kleine Bär“ in einer ersten deutschen Fassung bereits im Jahr des Erscheinens des Originals heraus. Der Übersetzer, Franz Caspar, arbeitete (der Verlag, Sauerländer, lag in der Schweiz) mit Helvetismen – er ließ seinen Kleinen Bären „Rüben“ in die Suppe stecken, wo die schöne Vignette von Sendak Möhren zeigt, und Mutter Bär kam bei ihm mit einem „Geburtstagskuchen“ an. In der Neuübersetzung von Erdmut Gross, die soeben beim Aladin-Verlag erschienen ist, ist der Kuchen nun eine Torte, die Rüben sind Möhren. Groß sorgt in ihrer neuen Fassung auch jenseits dialektaler Besonderheiten für einige Klärung im Text: In der ersten Geschichte „macht“ Mutter Bär keine Kleider mehr, sondern „näht“ sie („sew“ für „nähen“ ist im Englischen ein dermaßen unlogisch geschriebenes Wort, dass jeder englisch lesende Mensch verstehen wird, warum Minarik im Original das einfachere „made“ benutzte). In der zweiten Geschichte spricht der Kleine Bär seine Freunde nicht mit „Herr Kater“ und „Frau Henne“ an, sondern wie im Englischen mit „Kater“ und „Henne“. Und in der dritten fliegt er nicht mehr per „Fliegerhelm“, sondern, ebenfalls näher am Original, mit einem „Astronautenhelm“ („space helmet“) zum Mond – wo eine exakt gleiche Mutter Bär auf ihn wartet und ihm das Mittagessen ihres Kleinen Bären, der in dieser Stunde gerade zur Erde geflogen war, anbietet.
Das war die vielleicht großartigste Zeichnung im Buch: Der Kleine Bär, der TATSÄCHLICH in den Himmel fliegt, auf dem Hintergrund einer dörflichen Landschaft, nachdem er auf den Seiten zuvor schon über die Vignetten am Rand nach oben geklettert war. Für mich als Kind war dieses Bild ein unwiderlegbarer Beleg dafür, dass der Kleine Bär mit seinem Pappschachtelhelm wirklich fliegen konnte. Die Folge war natürlich, dass ich davon ausging, auf dem Mond gebe es tatsächlich eine mit der Erde identische Landschaft (was wusste ich mit sechs Jahren schon vom Mond?) und dass dort ebenfalls eine Mutter Bär hauste, deren Sohn zufällig gerade auf die Erde geflogen war… Und wenn diese Bärenperson am Ende behauptet, die irdische Mutter Bär des Kleinen Bären zu sein, wer konnte schon sicher sein (ich jedenfalls war mir nicht sicher), ob sie dem Jungen nicht vielleicht etwas vormachte? Die Bärin gehörte immerhin zu einer Spezies, die auch kein Problem darin sah, ihr Kind am Geburtstag allein zu lassen…
Eine Übersetzung für das neue Jahrtausend
Im englischen Original von „Little Bear“ ist fast jede Zeile für sich sinntragend – das heißt, man kann eine Zeile lesen und hat bereits einen sinngebenden Zusammenhang erfasst. Der erste deutsche Übersetzer Caspar hielt sich weitgehend an dieses Prinzip, was einige Merkwürdigkeiten in seiner Fassung erklären mag. Die Neuübersetzung von Gross dagegen setzt weniger auf die Sinnfälligkeit einzelner Zeilen als auf den Sinnzusammenhang innerhalb der Absätze und bleibt damit dem Original in vielen Punkten näher als ihr Vorgänger. Das Flattern im Satzbild wirkt ruhiger, beim Vorlesen der Geschichten dürften diverse Fragen (etwa: Warum spricht Kleiner Bär seine Freunde so förmlich an?) entfallen. An einer einzigen Stelle wendet sich Gross sich entschieden, und richtigerweise, sowohl vom englischen Original als auch von der ersten deutschen Übersetzung ab – nämlich im Auftakt des Buches.
It is cold.
See the snow.
See the snow come down.
So beginnt die Geschichte vom frierenden kleinen Bären, die danach in Vergangenheit weiter erzählt wird. Wer „Dick and Jane“ kennt, weiß, worauf sich Minarik bezieht: Die Aufforderung zu sehen, „see“, war amerikanischen Erstlesern („See Dick run / Run, run, run“) so geläufig wie 1+1=2.
Franz Caspar macht 1957 daraus folgendes:
Es ist kalt.
Siehst du den Schnee?
Siehst du, wie es schneit?
– keine schlechte Lösung angesichts des Umstands, dass Caspar hier in erster Linie einen lesepädagogischen Ansatz ins Deutsche überträgt. Gross dagegen räumt auf mit dieser Aufforderung „zu sehen“, räumt vor allem auf mit Caspars anonymem Fragesteller. Ihre Übersetzung von „Der Kleine Bär“, eine Fassung für ein neues Jahrtausend, beginnt so, wie wir die Geschichte, ausgehend von Sendaks Bildern, unseren eigenen Kindern erzählen würden:
Es war kalt. Draußen lag Schnee.
Es schneite in einem fort.
„Mutter Bär“, sagte der Kleine Bär,
„mir ist kalt. Guck doch, wie es schneit.
Ich möchte etwas zum Anziehen…“
Und unsere Kinder? Werden sich wie Generationen von Kindern vor ihnen in Sendaks Illustrationen verlieren, unbeschwert von Rätseln, die sich der früheren Übersetzung verdankten, aber nicht von den Fragen, die diese hinreißende Bilderwelt nahelegt: Warum in aller Welt sollte denn der Kleine Bär mit seinem Papphelm nicht auf dem Mond gelandet sein? Und warum sollte er (ein Thema der vierten Geschichte, „Der Kleine Bär hat einen Wunsch“) keinen Tunnel finden können, der durch die Erde bis nach China führt, wo ein chinesischer Kleiner Bär mit Essstäbchen auf ihn wartet? Wo man ihn doch klar im Bild sehen kann, diesen Tunnel?
„Das kann man sich nicht wünschen“, sagt Mutter Bär.
Aber wie das Buch mir einst nahebrachte: Der Frau ist nur bedingt zu trauen.
Brigitte Helbling
Else Holmelund Minarik: Der Kleine Bär (Little Bear, 1957). Mit Bildern von Maurice Sendak. Aus dem Englischen von Erdmut Gross. Aladin Verlag, Hamburg 2013. 63 Seiten, Euro 9,95. Zur Homepage des Aladin Verlags