Geschrieben am 23. November 2013 von für Bücher, Crimemag

Martin Cruz-Smith: Tatjana

Cruz Smith_TatjanaDie Geschichte des Wandels

– Wie es sich für einen Journalisten gehört, waren Zeitungen mitverantwortlich für meine literarische Sozialisation. Seit ich als Kind in der Berliner Tageszeitung „Der Abend“ Ian Flemings Roman „Im Geheimdienst Ihrer Majestät“ gelesen habe, bin ich beinharter Fan von James Bond. Von Lutz Göllner

Und Arkadi Renko begegnete mir – wenn ich mich richtig erinnere – zum ersten Mal auf den letzten Seiten des Stern. Hier erlebte Martin Cruz-Smiths Roman „Gorki-Park“ 1981 seine deutsche Erstveröffentlichung. Seitdem begleitet mich der Romanheld Renko durch mein eigenes Leben. Und jedes neue Buch von Cruz Smith ist, als ob ich einen alten Bekannten wiedertreffen würde: Mal freut man sich, mal bleibt die Begegnung ohne Resonanz, mal wundert man sich, in welcher Richtung der alte Freund sich entwickelt hat.

Arkadi Renko hat in den letzten 30plus Jahren so viele Veränderungen durchgemacht, wie das Land, in dem er lebt. Aufgewachsen als Mitglied der privilegierten Sowjetnomenklatur – sein Vater war ein berühmter Weltkriegsgeneral unter Stalin – war er Anfang der 80er Jahre vielversprechender Chefermittler der Miliz, ging dann als Dissident in den Untergrund, um schließlich in Freiheit unter Jelzin seine glänzende Karriere wiederzubeleben.

Und so wird seine Lebensgeschichte zur Geschichte des gesellschaftlichen Wandels in Russland. Langsam gleitet das Land – und damit auch Arkadi, der aus dem sechsten Roman immer noch ein Geschossfragment im Schädel hat – zurück in die Dunkelheit, aus der es kam. Immer mehr greifen unter Putin die Geister der Vergangenheit nach der Macht, immer düsterer entwickelt sich Renkos persönliches Leben.

In „Tatjana“ geht es nun relativ unverhohlen um den Fall der 2006 ermordeten Journalistin Anna Politkovskaya. Sie wurde auch im Westen bekannt durch ihre Reportagen über den Tschetschenienkrieg und Korruption im russischen Militärministerium. Nach mehreren Fahndungspannen und einem skandalösen Freispruch machte die russische Justiz schließlich den mutmaßlichen Mörder und seine Komplizen dingfest. Wer jedoch bei der Affäre die Fäden im Hintergrund gezogen hat, ist bis heute unklar.

Bei Martin-Cruz Smith heißt die Politkovskaya nun Tatjana Petrowna und stürzt aus dem sechsten Stock eines Hochhauses in den Tod. Renko fallen Tatjanas Rechercheunterlagen in die Hände und ihre Furchtlosigkeit erinnert ihn an seine verstorbene Frau Irina. Wie es seine Art ist, verbeißt er sich immer mehr in den Fall. Seine Ermittlungen führen ihn von Moskau nach Kaliningrad, dem ehemals deutschen Königsberg, heute russische Exklave, Heimathafen der Baltischen Flotte und – Zentrum der Bernsteinveredelung.

Auch in diesem achten Roman der Renko-Reihe merkt man Cruz-Smith all die alten Gepflogenheiten eines Journalisten an, wie bereits im Vorläufer „Treue Genossen“, ein Roman, der Renko und seinen Schöpfer Cruz-Smith in die verbotene Zone von Tschernobyl brachte. Er kennt Kaliningrad nicht nur mit dem Finger auf der Landkarte, er war vor Ort, hat penibel recherchiert und beschreibt die Stadt am Frischen Haff genauestens. Doch auch hier hat das auf und ab der russischen Politik seine Effekte hinterlassen.

Gorky_parkWie zu Sowjetzeiten

Es ist eine Gesellschaft, die zum Zerreißen gespannt ist, die der 71-jährige Cruz-Smith hier beschreibt. Es gibt unfassbaren Reichtum und entsetzliche Armut, es ist kompliziert, es gibt keine einfachen Lösungen. Kein Wunder, dass Cruz-Smith im Interview erzählt, er sei inzwischen kein „willkommener Gast“ mehr in Russland. Wie zu Sowjetzeiten. Damals musste Cruz Smith inkognito in die UdSSR einreisen und konspirativ recherchieren. Dabei war der Amerikaner beileibe kein „Kalter Krieger“, schon immer schilderte er das Land und seine Bewohner mit viel Sympathie und noch mehr Gefühl. Er hat Sinn für die russische Seele, immer wieder verweist er warmherzig auf die Poesie.

Genau das macht einen großen Teil dieser Romane aus: Cruz-Smith ist viel mehr, als nur ein simpler Thrillerautor, er bildet Wirklichkeit ab. Manchmal kann das auch schiefgehen, wie etwa im letzten Drittel des siebten Renko-Romans, „Die goldene Meile“, das ihm komplett aus dem Ruder lief und dem Renko plötzlich komplett „out of character“ agierte. Öfters geht das aber gut: „Tatjana“ kommt – um mal eine Hausnummer zu nennen – nicht an „Gorki-Park“ oder „Das Labyrinth“ heran, mit „Treue Genossen“ und „Stalins Geist“ (zur CM-Rezension) kann er aber locker mithalten.

Lutz Göllner

Martin Cruz-Smith: Tatjana (Tatiana, 2013). Roman. Deutsch von Susanne Aeckerle. München: C. Bertelsmann 2013. 320 Seiten. 14,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Mehr zu Martin Cruz-Smith.

Die Arkadi-Renko-Serie:
1981 Gorky Park (Gorki-Park, 1981)
1989 Polar Star (Polar Star, 1990)
1992 Red Square (Das Labyrinth, 1993)
1999 Havana Bay (Nacht in Havanna, 1999)
2004 Wolves Eat Dogs (Treue Genossen, 2005)
2007 Stalin’s Ghost (Stalins Geist, 2007)
2010 Three Stations (Die goldene Meile, 2010)
2013 Tatiana (Tatiana, 2013)

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