Die schlimmste Bande aber ist die Familienbande – wer wüsste das besser als Carlos. Der ist nämlich Fackelträger des literarischen Realismus.
Familienbande
Weil ich plane, mein restliches Gesamtwerk mehrheitlich bizarr, grotesk, absurd und also unverkäuflich zu verinhalten, eine Apologie vorab: Alles, was ich im Folgenden schildere, ist wahr! Es ist nichts dazu erfunden. Einzig die Pflicht zum Schutze der Persönlichkeitsrechte letztlich harmloser Menschen hindert mich hierfür Beweise vorzulegen. Ich schwöre aber auf Bibel, Verfassung und Restaugenlicht: Es ist tatsächlich so, dass …
… es in meiner ferneren Verwandtschaft eine Familie gibt, die diese Sitte pflegt:
So man sich dort trifft, wird ein aus drei Disziplinen bestehender Bewerb durchgeführt, alle machen mit, vom Kleinkind bis zu greisen Kämpfernaturen jenseits der 80, beiderlei Geschlechts.
Disziplin 1: Pfeilwerfen – nicht Darts, da muss man ja ein wenig rechnen – nein, eine schlichte Kinderwurfscheibe mit der Zehn in der Mitte und der schändlichen Eins am Rande wird anvisiert. Das geschieht in großem Ernst, mehr als einmal wurde von den passionierten Sportlern der Sippe meine mangelnde Körperspannung beim Wurf kritisiert.
Disziplin 2: Negerkussfangen mit dem Mund, ohne Einsatz der Hände. Der Hausherr (Ingenieur in Ruhe) hat hierzu eigens eine Negerkusswurfmaschine erdacht und fleißig gebastelt.
Disziplin 3: Nun werden Paare gebildet. Wettbewerber 1 steht auf einem Schemel und lässt (auf Zuruf von Wettbewerber 2) Gewehrkugeln in einen an der Dachtraufe eines der (zahlreichen) Gartenschuppen angebrachten Gartenschlauch rollen. Das andere Ende des Schlauches hält sein Partner (man darf sich nur leicht bücken!) in der Hand. Am Boden steht ein alter Plattenspieler, auf dem eine alte James-Last-Platte mit 33 Umdrehungen pro Minuten rotiert. Der Tonarm aber wurde entfernt, denn auf die LP sind vier Wegwerfbecher billigster Machart geklebt, die mit dickem Stift beschriftet sind: 5 Punkte, 10 Punkte, 20 Punkte, 50 Punkte. Da hinein, am besten in den letztgenannten, muss man die Gewehrkugeln fallen lassen. Der Ingenieur berechnet dann nach einem komplizierten, durchaus durchdachten Schlüssel das Gesamtergebnis.
Noch zwei Zusatzinformationen zum Hausherren: Er hat eine Hütte für seine Enkelchen gebaut. (Wie angedeutet: Das Grundstück sieht eigentlich wie ein in Panik geräumter Weihnachtsmarkt aus.) In der Hütte hat er aber auch seine riesige Sammlung kleiner, originalbefüllter Schnapsfläschlein untergebracht – in absolut kindgemäßer Höhe, auf einem umlaufenden Regalbrett, höchstens einen Meter über Bodenniveau.
Zweitens: Zur Zerstreuung berechnet der rüstige Pensionist, wie viel es kosten würde, die Alpen (!) mit der billigsten Raufaser zu tapezieren und dann natürlich auch noch zu streichen.
Man kann doch vielleicht einmal den Spieß herumdrehen und mir in großer Ehrerbietung konzedieren, dass ich DER Realist im literarischen Kosmos bin? Braucht’s noch einen Beleg?
Aber gerne: In meiner ferneren Verwandtschaft (nicht derselben) existiert ein Fotoalbum, in dem über viele Jahre jedes Familienfest dokumentiert ist: Geburtstage, Weihnachten, Silvester, was heraussticht, weil alle lustige Hüte tragen. Über viele Jahre sieht man durchgängig eine alte Dame auf dem Sofa sitzen, immer dort, niemals auf einem Sessel, niemals steht sie, es ist immer das Sofa, wo sie, von vorne gesehen, knapp links von der Mitte mit ausdruckslosem Gesicht herumlungert, was in der erwähnten Jahresendkleidung besonders bizarr wirkt. Diverse Teilnehmer der Festivitäten leben noch: Niemand hat an die Dame nennenswerte Erinnerungen. Niemand weiß auch nur, durch wen sie in die eigentlich der Familie vorbehaltenen Treffen eingeschleust wurde, ob sie am Ende einfach eindrang und nicht bemerkt wurde. Auch wie der Spuk ausging, wann sie starb und ob sogar vor Ort … Sie war und ist einfach nur die Frau auf dem Sofa und hieß, das wissen dann komischerweise alle noch: Sowa.
So.
Carlo Schäfer
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