Geschrieben am 9. April 2014 von für Film/Fernsehen, Litmag

Lars von Trier: NYMPH()MANIAC 1 + 2

nymphomaniac_1Dialog im Dunkeln

– NYMPH()MANIAC 1 beginnt mit Dunkelheit. Dann zeigt uns die Kamera in ruhigen Einstellungen ein kulissenhaftes, theatralisches Setting. Ein verwinkelter Hinterhof, eine Mischung aus dem Wohnblock von David Lynchs Eraserhead und dem Haus von Andrej Tarkowskijs Stalker. Es beginnt zu schneien. Der Titelsong von Rammstein setzt ein. Und dann sehen wir sie: Charlotte Gainsbourg. Zusammengeschlagen liegt sie in einer Pfütze. Ein alter Mann, Stellan Skarsgård in der Rolle des Seligman, findet sie. Er will einen Krankenwagen rufen – sie aber bittet ihn nur höflich lallend um eine Tasse Tee. Mit ein bisschen Milch. Sie gehen in seine Wohnung. Ein abstoßendes, ebenso theatralisches Zimmer mit verfaulenden Tapeten. Zunächst fragt man sich: ist sie schon tot und befindet sich in einer Art Hölle?

Die Frau heißt Joe. Und sie erzählt dem alten Seligman dann beim Tee ihre Geschichte. Warum sie ein schlechter Mensch ist. Warum sie in diese Lage gekommen ist. Im Zimmer gibt es ein paar wenige ausgewählte Gegenstände. Ein Köder für das Fliegenfischen, ein Buch von Edgar Allen Poe, eine Ikonennachbildung von Andrei Rubljow. Wie im Theater hat dann auch jeder Gegenstand eine Funktion. Joe lässt wie zufällig ihre Blicke schweifen und wählt dann zur Überschrift der Kapitel ihrer Lebensgeschichte einen der Gegenstände aus, der sich dann auch in den immer wieder neuen grafischen Gestaltungen der Kapitel-Einleitungen wiederfindet. Darauf bezieht sich im Anschluss an die in schlagkräftig besetzten filmischen Rückblenden erzählten Episoden dann immer auch ihr Gesprächspartner Seligman. Jedes einzelne Kapitel wird von ihm gewissenhaft interpretiert, relativiert und in einen größeren, bildungsbürgerlichen Kontext gesetzt. Dieser Dialog der beiden ist das Rückgrat des Films. Und damit beginnt ein in vielschichtiger Hinsicht raffiniert-schockierend-humorvolles Vergnügen.

Allein schon wegen der schauspielerischen Leistung dieser beiden Antipoden lohnt sich der Film. Wie selbstverständlich, klar und ungekünstelt Gainsbourg erzählt. Und wie hellwach und aufmerksam Skarsgård zuzuhören, zu fragen und zu interpretieren vermag. Es klingt so einfach. Aber nur die besten Schauspieler sind zu so etwas in der Lage. Nicht zu spielen, sondern zu sein – das ist die Kunst.

Der erste Teil von Joes Lebensbeichte beginnt mit Kindheit, Entdeckung und Perfektionierung der Sexualität. Weiter geht es mit ihrem unaufhaltsamen Aufstieg zur allmächtigen, perfekt durchorganisierten, alles was nicht bei drei auf dem Baum ist vögelnden Nymphomanin, die täglich neben ihrem Job in mathematischer Vollendung mindestens zehn Liebhaber jongliert. Und das in einer so ausgewogenen Harmonie, dass es den asexuellen Zuhörer Seligman z.B. an Fugen von Johann Sebastian Bach und Zahlenreihen vom mittelalterlichen Rechenmeister Leonardo da Pisa denken lässt. Joes Aufstieg findet schließlich am Ende von Teil 1 seinen Höhepunkt. Und das ausgerechnet mit dem vollständigen Verlust ihrer Orgasmusfähigkeit.

Nymphomaniac_Volumen_2In NYMPH()MANIAC 2 gewinnt der Film enorm an Stärke. Jetzt löst Charlotte Gainsbourg in den Rückblenden die junge Stacy Martin ab und kämpft als reifende Joe mit allen menschenmöglichen Mitteln darum, die Fähigkeit zu Kommen wiederzuerlangen. Sie opfert alles, was sie hat. Geld. Jobs. Die Liebe ihres Lebens. Ihren Sohn. Bis sie schließlich in einer immer heftiger werdenden Downward Spiral runtergespült wird. So lange, bis wir bei der Ausgangssituation des Films ankommen sind: blutig geschlagen und mit Urin im Gesicht im Hinterhof. Doch dann ist noch lange nicht Schluss. Zwischen Seligman und Joe kommt es noch zu einem weiteren Showdown…

Die letzte Grenze im Mainstream Kino, philosophierte Martin Scorsese 1995 in seiner dreiteiligen Serie über amerikanische Filmgeschichte, die letzte Grenze sei wahrscheinlich realer Sex. Seit dieser Zeit ging immer wieder das Gerücht um, der durchgeknallte Dogma-Däne Lars von Trier würde einen Porno drehen. „Weil die einfach filmisch sauschlecht gemacht sind“, so von Trier in einem Interview mit der Zeit. NYMPH()MANIAC ist kein Porno. Es geht höchstens um Penetration zugunsten von Reflexion. Und in Teil 2, in den SM Szenen mit dem grandiosen Jamie Bell, um rohe Gewalt, die wach macht, uns weg von weichgespülten Sehgewohnheiten hin zum echtem Leben, zu echten inneren Konflikten, zum menschlichen Körper bringt. Vor allem ist NYMPH()MANIAC verfilmte Philosophie. Der alte dänische Dualismus zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen. Wie Entweder – Oder von Sören Kierkegaard. Und: Im Grunde haben wir es wie in jedem von Trier Film mit einer starken Frau zu tun, die hingebungsvoll gegen eine kaputte Welt und ihre eigenen Dämonen kämpft.

Die Werbung verspricht vier Stunden Porno mit besten Schauspielern: Christian Slater, Uma Thurman, Udo Kier, Jamie Bell, Willem Dafoe, Charlotte Gainsbourg, Stellan Skarsgård und Nachwuchs wie Shia LaBeouf und Stacy Martin. Von wegen. Orgasmus-Gesichter-Poster und Orgasmus-Presse täuschen hier nur vor und bringen das Publikum auf eine völlig falsche Fährte. Zumindest hat einer Spaß daran. Der Agent-Provocateur Lars von Trier lacht sich einen. Und er liefert ab. Großes, intelligent gemachtes Kino mit über sich hinauswachsendem Ensemble. Vor allem: eine Geschichte, der das ganze Drumherum scheißegal ist und die unter die Haut geht.

Christopher Werth

Echt Hardcore: Aus gegebenem Anlass zieht das CULTurMAG blank und präsentiert hier ohne Porno-Double die von der Chefredaktion abgelehnten Überschriften:

  • Porno für Oberstudienräte
  • Pornosophisches Graduiertenkolleg
  • Pimpern für Promovierte
  • Spermtaler
  • Wichsgeschichten aus Bullerbü
  • Die kleine Verkehr-Jungfrau
  • Bumsfideles für Bildungsbürger

NYMPH()MANIAC 1 + 2. Dänemark, Deutschland, Belgien 2013. Regie und Buch: Lars von Trier. Schauspieler: u.a. Christian Slater, Uma Thurman, Udo Kier, Jamie Bell, Willem Dafoe, Charlotte Gainsbourg, Shia LaBeouf, Stacy Martin. Kamera: Manuel Alberto Claro. Schnitt: Molly Marlene Stensgaard.

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