Diamant
Könnt ich das Licht
dir geben, unsichtbar
im tiefen Blau
der Fische. Könnt ich
einen Apfel dir geben
ohne verlorenes Paradies,
eine Sonnenblume ohne Blüten
oder Kompass aus Licht,
das trunken sich aufschwingt
zum Abendhimmel;
und diese leere Seite,
die du lesen könntest,
wie man die klarste
Hieroglyphe liest.
Könnt ich ‚Flügel ohne Vogel‘
dir geben, so wie man
schöne Verse singt,
wär ein ‚Flug ohne Flügel‘
stets meine Schrift,
wie Diamant vielleicht,
Lichtstein ohne Flamme,
unendliches Paradies.
Aus dem Spanischen von Petra Strien
Poema Diamante
Si pudiera yo darte
La luz que no se ve
En un azul profundo
De peces. Si pudiera
Darte una manzana
Sin el edén perdido,
Un girasol sin pétalos
Ni brújula de luz
que se elevara, ebrio,
al cielo de la tarde;
y esta pagina en blanco
que pudieras leer
como se lee el más claro
jeroglífico. Si
pudiera darte, como
se canta en bellos versos,
unas alas sin pájaro,
siempre un vuelo sin alas,
mi escritura sería,
quizá como el diamante,
piedra de luz sin llama,
paraíso perpetuo.
Kolumbien. Natürlich Gabriel Garcia Marquez. Wer denn sonst? Vielleicht noch zwei, drei weitere Romanciers. Aber gibt es da auch Lyriker, die es wert sind, bei uns zur Kenntnis genommen zu werden? Ignoranz und Eurozentrismus, wie sie schlimmer nicht sein können.
Wer kennt zum Beispiel Àlvaro Mutis, den 1923 in Bogotá geborenen und 2013 – Garcia Marquez in Mexiko-Stadt verstorbenen Lyriker, der im spanischen Sprachraum fast alle großen Literaturpreise für sein Lebenswerk erhalten hat. Oder noch unbekannter ist Giovanni Quessep, geboren 1939 in San Onofre an der kolumbianischen Karibikküste? Studiert hat Quessep in Bogotà und im italienischen Perugia. Nach dem Studium mit dem Schwerpunkt auf Renaissance-Literatur hat er spanische Literaturgeschichte an der Universität von Cauca in Popayàn. 1961 erschien sein erster Lyrikband, dem dann zwölf weitere Bände folgten.
Heute gilt er als der neben Mutis einflussreichste Lyriker Kolumbiens in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts. Michi Strausfeld kommt das Verdienst zu, in ihrer Anthologie mit moderner lateinamerikanischer Lyrik wenigstens eine kleine Auswahl mit Gedichten von Quessep aufgenommen zu haben. Dass Gabriel Garcia Màrquez der größte, vor allem weltweit bekannteste zeitgenössische Schriftsteller Kolumbiens war, ist vollkommen unstrittig. Aber es gab – und gibt – auch andere Schriftsteller neben ihm, die es wert sind, bei uns zur Kenntnis genommen zu werden. Giovanni Quessep ist einer von ihnen.
Carl Wilhelm Macke
Nachsatz zur Reihe „Weltlyrik“: Wenn man fast täglich im Rahmen der Koordinierung des Netzwerks „Journalisten helfen Journalisten“ (www.journalistenhelfen.org) mit Mord und Totschlag auf allen fünf Kontinenten konfrontiert wird, dann wundert man sich, warum immer wieder auch verfolgte Journalisten in aller Welt neben ihren Recherchen über korrupte und diktatorische Regime Gedichte schreiben und lesen. Gäbe es sie nicht, es würde uns etwas fehlen – etwas Großes, etwas, das uns leben und träumen, kämpfen und trauern, lieben und verzeihen lässt. Aber „Poesie ist aber auch eine große Sprachübung. Ich kann nicht auf sie verzichten. Sie verlangt tiefe sprachliche Konzentration, und das kommt der Prosa zugute“ (Der polnische „Weltreporter“ Ryszard Kapuscinski). CWM
Das Gedicht ist erschienen in: Michi Strausfeld, Hrsg.: Dunkle Tiger. Lateinamerikanische Lyrik. Aus dem Spanischen von Petra Strien. Frankfurt am Main, 2012. Foto: Quelle.