Neue Platten von und mit Kate Tempest, Client, Hercules And Love Affair, „Calypso“, Somi und The Pains of Being Pure At Heart, gehört von Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).
Klassische Themen
(MO) Das Foto auf dem Albumcover führt in die Irre: Kate Tempest hat sich keineswegs verträumtem Singer-/Songwriter-Folk verschrieben. Die 27-jährige Südlondonerin ist bereits eine renommierte – und hierzulande noch unbekannte – Schriftstellerin, Dramatikerin und Spoken Word-Künstlerin und kommt jetzt mit einem Album um die Ecke, das schlicht umwerfend ist. Als 16-Jährige rappte Tempest Freestyle im Bus, zehn Jahre später ist sie die Retterin des Hip-Hop. In einem schier unendlichen Strom aus Beats und Worten handelt sie oberflächlich betrachtet die klassischen Themen ab (Geld, Drogen, Kriminalität, Prostitution), aber aus Hip-Hop-unüblicher Perspektive: im Mittelpunkt steht die Suche nach Liebe, Zugehörigkeit und Akzeptanz; Tempest feiert nicht ihre Skills ab, sondern ihre Zweifel.
Die Tracks bilden einerseits eine komplexe, durchgehende Story mit Protagonistin Becky, stehen aber auch für sich allein – und sind gleichzeitig die Kapitel eines Romans, den Kate Tempest noch in diesem Jahr veröffentlichen wird. Nicht nur inhaltlich ist „Everybody Down“ interessant und ungewöhnlich, die Musik ist es auch. Unterstützt von Producer Dan Carey alias Mr Dan (Santigold, M.I.A., Hot Chip) entfesselt Kate Tempest einen mitreißenden, düsteren Sog aus fetten Two-Step-Electro-Beats und einprägsamen Melodien, über die sie mit heiserer Stimme rappt/sprechsingt. In „Stink“ und „To The Victor The Spoils“ spiegelt sich der Dreck der Londoner Straßen, aber auch so etwas wie Hoffnung; „The Beigeness“ und „Lonely Daze“ sind großartige Dancetracks mit ordentlichen Portionen Melancholie und Nachdenklichkeit. Seit Mike Skinners/The Streets‘ „Original Pirate Material“ hat man kein so berührendes Rap-Album mehr gehört – Kate Tempest hat schon jetzt ihren Platz in den obersten Rängen der Jahrescharts sicher.
Kate Tempest, Everybody Down (Big Dada). Zur Homepage.
Gesamtkunstwerk
(MO) Die letzten Jahre müssen anstrengend für Kate Holmes alias Client A gewesen sein: mehrere Label- und vor allem Mitmusikerinnenwechsel machten jede neue Tour und jedes neue Album der Londoner Elektropopband Client für Fans zumindest spannend. Wer würde mit Client A auf der Bühne stehen, wer gemeinsam mit ihr die typische Stewardessen- oder Bürouniform tragen, singen und Geräte bedienen? Eine Zeitlang war sogar Ex-Ash-Bassistin Charlotte Hatherley als Client C mit an Bord. Mit „Authority“ beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte von Client: frisch hinzugekommen ist Sängerin Nicole Thomas/Client N, die aus der Bristoler Electro-Szene stammt. Auch wenn fast überall zu lesen ist, dass „ein dunkler Grundton“ die zwölf Stücke durchziehe, ist dieser nur in Ansätzen und manchen Intros („Quarantine“, „Nocturnal Eyes“) spürbar. Es mag an Client Ns klarer, heller Stimme liegen oder an Client As neuer Lust am Pop, jedenfalls ist „Authority“ in erster Linie ein von vorne bis hinten durchtanzbares Clubalbum.
Die vorab veröffentlichte Single „You Can Dance“ spricht Bände – und wurde in England und Deutschland ein kleiner Hit. Client lassen den Elektropop der letzten 35 Jahre in ihre neuen Tracks einfließen: von Kraftwerk über Bucks Fizz (ja, genau die meine ich), Human League, Depeche Mode, New Order und Kylie Minogue sind jede Menge Versatzstücke zu hören und es ist Clients großes Verdienst, dass das Album trotzdem wie aus einem Guss wirkt. Für meinen Geschmack manchmal ein bisschen zu glatt und leicht goutierbar („Refuge“), zum Teil fesselnd („XXX Action“) und bei dem bubblegummigen „Artificial“ sogar richtig witzig. Also lasst euch keinen Bären aufbinden: dunkel und düster sind bei „Authority“ nur die Kleider der beiden Clients, die man neben vielerlei anderem Merch (Handschellen, T-Shirts, Taschen) über die Band-Homepage kaufen kann. Gesamtkunstwerk rules o.k.
Client: Authority (out of line). Zur Homepage.
Oldschool-House-Music
(MO) Ein paar Amazon-Kunden sind enttäuscht: Wo sind denn bitte die Hits auf „The Feast Of The Broken Heart“, wo bleibt die Abwechslung in den Beats, wo ist der Pop-Appeal? Der Focus beklagt gar die „schrille schwule Aggressivität“, die auf Kosten der Melodiösität von früheren Songs wie „Blind“ ginge.
Was ist denn da nur los? Beim dritten Album von Hercules And Love Affair frönt Andy Butler seiner Leidenschaft für Oldschool-House-Music der 1980er- und 90er-Jahre, und zwar durchgehend. Das heißt: Four-to-the-Floor-Bassdrum mit elektronifizierten Basslines und Soul-Vocals. Und ja, es stimmt, liebe Versandhaus-KonsumentInnen, das Album wirkt durchaus so, als hätte Butler die Trennpausen nachträglich gesetzt: die zehn Tracks von „Hercules Theme 2014“ bis „The Key“ könnten auch am Stück durchlaufen – aber hey, das hier ist ein lupenreines House-Set, keine Best-of-Charthits-Compilation!
Wobei: Hits sind die Songs (wenn man sie als einzelne wahrnimmt) allesamt. Das New Yorker Genderblender-Ensemble um DJ-Mastermind und einzige feste Größe Andy Butler präsentiert die fantastischsten, souligsten House-VocalistInnen, die man sich nur wünschen kann: John Grant, Rouge Mary, Gustaph und Krystle Warren – großartige Stimmen, die zu Butlers dicken, sämigen, schillernden Beats vor allem eine Message verbreiten: Be Yourself! Natürlich ist hier Hedonismus King, aber immer im Austausch mit anderen: „Do You Feel The Same?“ heißt ein Track, „I Try To Talk To You“ ein weiterer, my house is your house, und nur wenn die Tanzfläche voll ist, finden wir alle „The Light“ und „Liberty“ – das mag manche/r schrill und aggressiv finden, ich nenne es die warmherzigste, weltumarmendste, offenste Danceplatte seit langer, langer Zeit.
Hercules And Love Affair: The Feast of the Broken Heart (moshi moshi/Pias). Zur Facebookseite.
(TM) Calypso wurde geboren in Trinidad, daher finden sich auf dieser tollen Platte Songs von dieser, aber auch von anderen Inseln wie Jamaika oder den Bahamas, und zwar aus den 1950er- und 1960er-Jahren. „Calypso“ ist eine Hommage an diese Musikform, in der besten Weise realisiert, die man sich vorstellen kann. Die Rhythmen sind mitreißend, die Texte sind witzig und manchmal anzüglich – denn natürlich geht es bei dieser körperbetonten Musik auch um Sexualität. Sexismus allerdings ist glücklicherweise außen vor, auch wenn man sich schon fragen muss, wo uns die Entwicklung des Musikstils mittlerweile hingeführt hat.
Wüsste man nicht, dass z. B. Jamaica leider mittlerweile nicht für jeden „the place to go“ ist, wie Charlie Binger & His Quartet auf „Jamaica Is The Place To Go“ behaupten (Homosexuelle z. B. sollten das Land vielleicht besser meiden), man ließe sich noch viel lieber anstecken von den positiven Vibes, die einem aus dieser historischen CD entgegenspringen. Ja, es ist eine lange Zeit ins Land gegangen seit diesen Aufnahmen, und „Calypso“ macht Lust darauf, auf Zeitreise zu gehen.
Various: Calypso. Musical Poetry In The Carribean 1955-69. Soul Jazz (Indigo).
Erbe von Nina Simone
(TM) Dass Somi bereits mit Musikern wie Bobby McFerrin, John Legend und Paul Simon gemeinsam auf der Bühne stand, verwundert den Hörer ihres neuen Albums „The Lagos Music Salon“ nicht wirklich. Jazz, Pop, Soul – Somi, die in Illinois geborene Sängerin mit Wurzeln in Ostafrika, kann all das in ihrer Kunst vereinen, mit einer Stimme und einem Gefühl, die sofort gefangen nehmen. Somi zog vor einem Jahr nach Nigeria. Die Inspirationen, die sie dort fand, sind konserviert in den 18 Songs dieser Platte, auf der Somi klingt wie eine sehr würdige Nachfolgerin von Nina Simone. Die Songs sind dabei allesamt keine Leichtgewichte, sondern fordern die Geduld und das Zuhören. Dann aber entfalten sie sich und beginnen zu fliegen. Langeweile kommt da nicht eine Sekunde auf.
Somi: The Lagos Music Salon. Okeh (Sony).
Update des Achtziger-Twee-Sounds
(MO) Auch wenn die Combo um Sängerin und Gitarristin Kip Berman behauptet, keine Twee-Pop- oder Post-Shoegaze-Band zu sein, sind The Pains of Being Pure At Heart natürlich genau das: nach dem dunkler getönten, an The Jesus and Mary Chain und Velvet Underground gemahnenden Album „Belong“ von 2011 klingt die neue Platte „Days Of Abandon“, als hätten die MusikerInnen im Studio zuerst mal alle Fenster aufgerissen, um die Frühlingssonne hineinzulassen. Dabei stand die Produktion zunächst unter keinem guten Stern: Sängerin Peggy Wang verließ die Band, um sich ihrer Tätigkeit als Redakteurin des Online-Magazins BuzzFeed zu widmen. Der Verlust schmerzt natürlich (und spiegelt sich auch in den teilweise wehmütigen, bittersüßen Texten), aber Kip Berman füllt die Rolle der alleinigen weiblichen Stimme bestens aus.
Die Musik baut auf den jubilierenden Gitarrenläufen Bermans und Connor Hanwicks auf und klingt unverhohlen retro: Bei „Coral And Gold“ oder „Eurydice“ kann man Versatzstücke aus The Cure-Songs (den lebhafteren freilich) heraushören; auch Gitarrenpop-Bands wie The Wedding Present, The Bodines, die ihre Hochzeiten in den mittleren bis späten 1980ern hatten, standen Pate. Mit den Stars teilen The Pains of Being Pure At Heart das Händchen für eingängige Melodien und upliftende Refrains. Trotz personeller Einbußen gelingt TPOBPAH ein zeitgemäßes Update des Achtziger-Twee-Sounds – Ringelshirts und Doc Martens als Konzertoutfit sind Pflicht!
The Pains of Being Pure At Heart: Days of Abandon. Fierce Panda (Cargo). Zur Homepage. The Pains of Being Pure At Heart live: 19.6.2014 München, Stromlinienclub, 20.6.2014 Berlin, Magnet Club, 21.6.2014 Frankfurt, ZOOM, 22.6.2014 Münster, Gleis 22, 24.6.2014 Hamburg, Knust, 25.6.2014 Köln, Luxor.