Vom Jenseits ins Diesseits
„Outlaws“ ist der vierte Roman des spanischen Schriftstellers Javier Cercas, der ins Deutsche übertragen worden ist. Aufsehen erregt hat der Professor für Literaturwissenschaften bislang vor allem mit dem Roman „Anatomie eines Augenblicks“, der den gescheiterten spanischen Militärputsch von 1982 literarisch aufarbeitet. Sein neuer Roman spielt im Milieu krimineller Jugendbanden, in seiner katalanischen Heimatstadt Gerona. Eva Karnofsky hält „Outlaws“ für sehr lesenswert.
Ignacio Cañas stammt aus einer Beamtenfamilie und ist ein guter Schüler. Sein Lebensweg scheint vorgezeichnet, aus ihm würde einmal etwas werden. Bis ein Mitschüler beginnt, ihn zu verprügeln. Der Sechzehnjährige sondert sich nun aus Angst von seiner bisherigen Clique ab und verbringt seine Nachmittage allein in einer Spielhalle. Dort lernt er die schöne Tere kennen. Sie gehört zu einer kriminellen Jugendbande. Das Mädchen schleppt Ignacio mit auf die Toilette und besorgt es ihm.
Für ihn war es das erste Mal, so verliebt er sich prompt in Tere, und in der Hoffnung, dass sich die Ereignisse von der Toilette wiederholen, schließt er sich ihrer Bande an, deren Anführer ein Junge namens Zarco ist. Mit der Bande im Rücken, traut sich nun von seiner alten Clique niemand mehr, Ignacio zu demütigen. Nach einigen Tagen nimmt er an seinem ersten Einbruch teil. Wir schreiben das Jahr 1978.
Dreißig Jahre später, aus Anlass von Zarcos Tod, beauftragt ein Verlag einen Schriftsteller damit, dessen Geschichte aufzuschreiben, denn Zarco war über die Jahre zu Spaniens bekanntestem Gauner geworden, der ständig in den Medien präsent war. Der namenlose Schriftsteller interviewt für dieses Buch einen Polizei-Inspektor, einen Gefängnisdirektor sowie Zarcos ehemaligen Kumpel Ignacio. Javier Cercas hat seinem Roman „Outlaws“die Form einer Interview-Reihe gegeben, will heißen, sein fiktiver Schriftsteller fragt und die Genannten antworten – in einer gehobenen Umgangssprache, wie sie gewöhnlich in Interviews gesprochen wird.
Autor Cercas teilt sein Buch in zwei Teile. Den ersten nennt er „Jenseits“. Er schildert darin den Sommer ’78, in dem Ignacio Mitglied von Zarcos Bande war, mit ihr Autos knackte, in Häuser einbrach und schließlich an einem Banküberfall teilnahm, immer in der Hoffnung, Tere für sich zu gewinnen. Wirklich dazugehörig fühlte er sich jedoch nie.
Cercas arbeitet in seinem Roman nicht nur sehr überzeugend die Beweggründe heraus, die den pubertierenden Ignacio in die Arme der Bande treiben. Sehr gut schildert er auch die tiefe, unüberbrückbare Kluft zwischen den sozialen Schichten, wie sie die erst 1975 zu Ende gegangene, fast vierzigjährige Diktatur Francisco Francos in Spanien hinterlassen hat. Ignacio stammt nicht wie Tere aus der Wellblechbarackensiedlung ohne befestigte Wege jenseits des Ter-Flusses, der seine Heimatstadt Gerona damals noch in zwei verschiedene Welten teilte. Ignacio hat im Gegensatz zu Zarco eine intakte Familie und hat die Schule nicht frühzeitig abgebrochen. Wenn Ignacio mit seiner Intellektuellenbrille vor den Einbrüchen an den Häusern schellt, um zu sehen, ob jemand zuhause ist, wird niemand misstrauisch. Deshalb ist er der Bande nützlich.
Nachdem es bei einem Banküberfall zu einem Mord gekommen und Ignacio angeschossen worden ist, weil offenbar jemand die Bande an die Polizei verraten hat, ermöglicht Zarco ihm die Flucht vor den Ordnungshütern. Der Bandenchef weiß, dass Ignacio im Gegensatz zu ihm eine Zukunft hat. Zarco wandert ins Gefängnis, und Ignacio erhält tatsächlich eine zweite Chance. Wie dies sich genau zuträgt, soll hier allerdings nicht verraten werden.

Francisco Franco (wikimedia commons)
Universale Thematik
Den zweiten Teil seines Romans „Outlaws“ nennt Cercas „Diesseits“. Ignacio, inzwischen Rechtsanwalt, bewegt sich wieder ausschließlich auf seiner Seite des Flusses. Wobei die Wellblechbaracken längst Reihenhäusern und einem Park gewichen sind, ihre Bewohner sind wie Tere in triste Hochhäuser umgesiedelt worden.
Anders als Ignacio, aber auch als Tere, die in einer Fabrik arbeitet, hat Zarco es nicht geschafft, sich in die Gesellschaft einzugliedern. Er hat fast sein ganzes Leben im Gefängnis verbracht, hat dort Aufstände angezettelt und war mehrfach ausgebrochen, was ihn zum Idol der Medien aufsteigen ließ. 1999 wird er dann ins Gefängnis von Gerona verlegt. Tere taucht kurz darauf in Ignacios Kanzlei auf und bittet ihn, für Zarcos Freilassung zu sorgen und ihm eine Resozialisierung zu ermöglichen. Ignacio gibt dem fiktiven Schriftsteller im Interview zu Protokoll, dass er den Werbeeffekt für die Kanzlei nutzen wollte, aber auch gespannt darauf war, Zarco wiederzusehen. Und Tere zieht Ignacio auch weiterhin an.
Die zweite Hälfte des Romans ist nicht nur spannend, weil der Leser sich fragt, wie sich die Beziehung zwischen den beiden entwickeln wird. Man will auch wissen, ob Ignacio es schafft, Zarco aus dem Gefängnis zu holen und ob es dem einstigen Bandenchef gelingt, doch noch ein rechtschaffenes Leben in Freiheit zu führen. Und schließlich: Gelingt es Ignacio, im Zuge seiner Bemühungen für Zarco auch weiterhin geheim zu halten, dass er einst zu dessen Bande gehörte? Und was führt weitere zehn Jahre später zu Zarcos Tod?
Auch im zweiten Teil seines Romans greift Javier Cercas das Thema der Beziehungen über Klassengrenzen hinweg auf und geht nun der Frage nach, ob die Demokratie dazu beigetragen hat, die Gesellschaft durchlässiger zu gestalten. Seinem Schluss soll hier allerdings nicht vorgegriffen werden. Auch wenn seine Protagonisten ihre jeweilige Schicht repräsentieren, geraten sie nie zu Prototypen. Cercas versteht es vielmehr, sie glaubhaft und lebendig zu zeichnen.
Besonderes Augenmerk legt Javier Cercas im zweiten Teil seines Romans zudem auf die Rolle der Medien im Verfahren um Zarcos Freilassung. Ignacio sorgt dafür, dass Zarco María heiratet, eine junge Frau, die sich um Gefangene kümmert und die nach förmlich nach öffentlicher Aufmerksamkeit giert. Eine Ehe, so das Kalkül des Anwalts, lässt den Eindruck von Stabilität entstehen. Liebe ist weder bei Zarco noch bei María im Spiel.
Mit Hilfe der Medien, so das Credo des Romans, lässt sich Wirklichkeit scheinbar umgestalten, und dies in einem Ausmaß, dass die Beteiligten zeitweilig selbst daran glauben.
Javier Cercas ist mit „Outlaws“ ein sehr vielschichtiger und dabei spannender Roman gelungen. Seine große Themen – die Undurchlässigkeit von Klassengesellschaften, die Entstehung von Jugendkriminalität und die Allmacht der Medien – sind über Spanien hinaus von Interesse.
Eva Karnofsky
Javier Cercas: Outlaws (Las leyes de la frontera, 2013). Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2014. 508 Seiten. 24,99 Euro. Verlagsinfomationen zu Autor und Buch. Mehr zu Eva Karnofsky. Hier bei Culturbooks.