Geschrieben am 23. Mai 2009 von für Bücher, Crimemag

Raymond Chandler: Die simple Kunst des Mordens

Wie simpel die Kunst des Mordes bei Chandler und in Lateinamerika (nicht) ist

Die vom Diogenes Verlag neu herausgegebene Sammlung von Briefen und Notizen Raymond Chandlers enthält auch seinen berühmten Essay Die simple Kunst des Mordes (The Simple Art of Murder, 1944). Während die Lektüre der thematisch geordneten Briefe und Notizen wohl nur Chandler-Forscher oder echte Fan (atiker) zu begeistern vermag, stellt der Essay einen Meilenstein in der Theoriebildung dar, der durchaus auch Liebhabern zeitgenössischer Kriminalliteratur interessante Einsichten gewährt. Neben einigen Anmerkungen zu Marktphänomenen und Produktionsbedingungen für Kriminalliteratur, besteht das Kernstück des Essays aus Chandlers Kritik am englischen Rätselroman sowie seiner Forderung nach „hartgesottenem“ Realismus. Dass Dorothy Sayers’ Position sozusagen eine Absage an die literarische Moderne ist, hat Chandler nicht gemerkt. Doris Wieser hat sich Gedanken gemacht, wieso Chandler zwar oft zustimmend aufgerufen wird, aber dahinter nicht immer etwas Substantielles steckt.

Abkotz auf Christie und Sayers

Die Rätselromane des Golden Age (1920er und 30er) überbeanspruchten die aristotelische Mimesis, nach welcher Dichtung (d.h. Literatur) nicht nur das Tatsächliche, sondern das Mögliche und Allgemeine mitteilt, weswegen sie als philosophischer (und damit wertvoller) als die Geschichtsschreibung zu beurteilen ist. Mimesis (Nachahmung) funktioniert, wenn der Autor über genügend Überzeugungskraft verfügt und die Gesetze der Wahrscheinlichkeit respektiert. Die zwanghafte Fixierung des Rätselromans auf den Überraschungseffekt am Ende, führte aber dazu, dass die AutorInnen den äußerst dehnbaren Begriff der „Wahrscheinlichkeit“ zum Bersten brachten, indem sie von Mal zu Mal absurdere Lösungen für ihre Fälle konstruierten. Der Realitätsgummi schnellte zurück und knallte ihnen auf die Ohren, was sie aber nicht besonders schmerzte, denn der Erfolg schien ihnen Recht zu geben. Sie schrieben immer noch mehr und saturierten den Markt mit Durchschnittsromanen, die eine Veröffentlichung nicht verdient hatten, und das kotzt Chandler schlichtweg an. Derartige Detektivromane geben vor, ein „Problem der Logik und Deduktion“ zu sein. Kollabiert jedoch die Überzeugungskraft des Autors aufgrund von zu vielen unplausiblen Handlungselementen, dann bleibt von diesen Romanen nichts übrig, was sie als Literatur noch retten könnte. Daher Chandlers Fazit: „Über all diese Geschichten lässt sich eine sehr einfache Feststellung treffen: sie stellen sich intellektuell nicht wirklich als Problem dar und artistisch nicht wirklich als Roman“ (S. 331).

Auch an Dorothy Sayers, von der man sagt, sie habe den englischen Rätselroman zurück in den Bereich des Realistischen geholt und zwar in der Form einer „novel of characters and manners“, lässt Chandler kein gutes Haar. Für ihn gehört „das Fräulein Sayers“ noch immer zur alten Schule, da sie ihre Hauptpersonen unter die Diktatur der Rätselstruktur prügelt und „lauter unwirkliche Dinge“ (S. 334) tun lässt. Rätselromane sind „viel zu vertrackt ersonnen und enthalten zu wenig von dem, was in der Welt vorgeht. Sie versuchen ehrlich zu sein, aber Ehrlichkeit ist eine Kunst. Der schlechte Schriftsteller ist unehrlich, ohne es zu wissen“ (S. 331f.). Darin liegt die Krux: Die Autoren merken nicht, wie weit sie sich von einer realistischen Darstellung entfernt haben, weil sie die Realität, über die sie zu schreiben glauben, gar nicht oder nicht gut genug kennen.

Laudatio für Hammett

Demgegenüber stellt Chandler die Romane von Dashiell Hammett, der „den Mord zu der Sorte von Menschen zurück [brachte], die mit wirklichen Gründen morden“ (S. 337) und seine Figuren im „hartgesottenen“, amerikanischen Englisch der einfachen Leute sprechen ließ. Chandlers Kritik am Pseudo-Realismus des englischen Rätselromans, der so daherkam, als könne wirklich alles so passieren, wie er es darstellt, aber tatsächlich Schindluder mit dem realistischen Stil betrieb „aus Mangel an Bewusstsein, aus Unfähigkeit, den Abgrund zu überbrücken, der zwischen dem klafft, was ein Schriftsteller gerne sagen möchte, und dem, was er tatsächlich zu sagen versteht“ (S. 339), ist heute noch aktuell und auf seine Weise sogar aktueller denn je. Die Sintflut von mittelmäßigen bis schlechten Kriminalromanen, die auf der Sonnenterrasse des Krimibooms ihre goldene Nase in den Höhenkamm zu recken glauben, macht genau das: Sie betreiben Schindluder mit dem realistischen Stil. Nur verstecken die Autoren ihre Unkenntnis heute besser; sie sind erzählerisch abgefeimter, täuschen uns wirkungsvoller und treiben nicht nur in der Form des Detektivromans ihr Unwesen, sondern auch in allen anderen Arten und Abarten des Kriminalromans. Und der Grund dafür, warum das funktioniert, ist immer noch derselbe: Mangel an Bewusstsein und zwar auf beiden Seiten, bei Autoren wie Lesern. – Wer Pieke Biermanns Kriminalreportagen in den letzten Jahren verfolgt oder ihre Beiträge im Krimijahrbuch 2007 gelesen hat, weiß, wie weit Fiktion und Realität teilweise auseinanderklaffen.

An den Schuss vor den Bug der Golden-Age-Fregatte knüpft Chandler seine Forderung nach einer Art von Realismus, der dezidiert auf lebensweltliche Kontexte reagiert: „Der Realist der Mord-Geschichte beschreibt eine Welt, in der Gangster ganze Nationen regieren können und Städte sogar manchmal regieren […], eine Welt, in der ein Richter, der den ganzen Keller voll von geschmuggeltem Alkohol hat, einen Menschen ins Gefängnis schicken kann, weil er einen Flachmann in der Tasche hatte, in der sich vielleicht der Bürgermeister Ihrer eigenen Heimatstadt längst mit dem Mord als einer regulären Methode, zu Geld zu kommen, abgefunden hat, in der kein Mensch mehr sicher durch eine dunkle Straße gehen kann, weil Recht ein Ding ist, das wir zwar dauernd im Munde führen, aber in die Praxis nicht einführen wollen […]“ (S. 340).

Was sagt uns das heute? Ich persönlich lese Chandler jedenfalls nicht, weil ich seine Romane besonders mag, sondern weil ich mich frage, was seine Poetik mit den Kriminalromanen zu tun hat, die ich am liebsten lese, nämlich mit den lateinamerikanischen, denn viele Autoren aus Lateinamerika, von Padura bis Argemí, beziehen sich auf Chandler als eines ihrer wichtigsten Vorbilder.

Realismus in Lateinamerika heute

Chandlers Charakterisierung dessen, was Kriminalität und Gangstertum in amerikanischen Großstädten wie Los Angeles in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausmacht, scheint auf den ersten Blick viel gemeinsam zu haben mit den Machenschaften kolumbianischer Drogenkartelle, Favela-Banden in Rio oder Schleußer in Mexiko: Sie sind organisch mit der Staatsführung verwachsen, mafiös organisiert, nicht ausrottbar, allgegenwärtig, integraler Bestandteil der Gesellschaft etc. Auf den zweiten Blick aber gestalten sich Chandlers hard-boiled detective novels, doch etwas anders, als Romane von Paco Ignacio Taibo II, Rubem Fonseca, Horacio Castellanos Moya oder Ramón Díaz Eterovic.

Chandler konnte in seiner durch und durch verrotteten Welt immer noch einen Helden agieren lassen, der mit all seiner Ehre, Rechtschaffenheit und Schlagfertigkeit als literarische Figur auf einer symbolischen Ebene funktionierte: Philip Marlowe stand für Moral, Ehre, Anstand, Mannesmut; er war der Held im Kampf für Gerechtigkeit. Denn so konzipierte ihn Chandler: „[…] durch diese schäbigen Straßen muss ein Mann gehen, der selbst nicht schäbig ist, der eine reine Weste hat und keine Angst […]. Er muß, um einen ziemlich abgedroschenen Ausdruck zu gebrauchen, ein Mann von Ehre sein – aus Instinkt, aus innerster Notwendigkeit, ohne Gedanken daran, und gewiss ohne Worte darüber. Er muß der beste Mensch auf der Welt sein und ein Mensch, der gut genug ist für jede Welt“ (S. 341). Fehlte es Chandler da nicht doch an Realismus?

Ein solcher Held wäre zumindest im heutigen Lateinamerika nicht überzeugend, geschweige denn realistisch. Viele lateinamerikanische Länder befinden sich derzeit in einer Phase der Aufarbeitung einer Vergangenheit, die durch repressive Diktaturen, eklatante Menschenrechtsverletzungen, von oben institutionalisierte Gewalt, politische Verfolgung und US-amerikanische Interventionen – militärischer, wirtschaftlicher und finanzpolitischer Art – geprägt war. Die lateinamerikanischen Länder kommen in ihrer jüngeren Geschichte zu einer verheerenden Bilanz: Zehntausende „Verschwundene“ und politische Gefangene während der Diktaturen in Argentinien, Uruguay, Paraguay und Chile bis in die 1980er Jahre hinein, 70.000 Tote in Peru zwischen 1980 und 2000, weitere 70.000 in Kolumbien seit 1985, unfassbare 200.000 Tote in einem so kleinen Land wie Guatemala zwischen 1960 und 1996 und, und, und. Dazu gesellen sich Armut, Umweltkatastrophen, Wirtschaftskrisen. All das verleiht dem Stellenwert von Gewalt eine andere Dimension als in Chandlers Los Angeles, in dem Straflosigkeit nicht durch Amnestiegesetze garantiert wurde (wie lange Jahre in Argentinien, Brasilien, Chile etc.) und auch Marlowe noch an punktuelle Gerechtigkeit glauben konnte. In Lateinamerika muss das Vertrauen in die Justiz und in staatliche Institutionen erst wieder entstehen. Einige Länder sind auf dem Weg dahin. Aber eine Figur wie Philip Marlowe wäre in dieser Welt heute nicht mehr bzw. noch nicht realistisch.

Den Unterschied zu Philip Marlowe erkennt man bereits an Héctor Belascoarán Shayne, dem ersten lateinamerikanischen Serienhelden, der seit Ende der 1970er über Mexiko hinaus bekannt wurde und dem Genre in Lateinamerika den richtigen Kick versetzte. Bei Paco Ignacio Taibo II beantwortet der Held Gewalt mit Gegengewalt, da dies im Moloch Mexiko-City, in dem Straffreiheit die Regel ist, die einzige Möglichkeit zu sein scheint, mit Verbrechern umzugehen. Im Gefecht verliert Héctor ein Auge, hinkt als Folge einer Schusswunde (Cosa fácil, 1977), zertrümmert aus Rache Handgelenke (Adiós, Madrid, 1997) und erschießt Menschen (z.B. in No habrá final feliz, 1981), allerdings ohne dabei unbegründet und amoralisch zu handeln. Aber seine Ethik ist nicht die Marlowes. Und wenn sich in einen lateinamerikanischen Kriminalroman einmal ein Idealist einschleicht, wird er schnell durch den Fleischwolf des Systems gedreht, wie z.B. der peruanische Richter Guido Pazos in Alonso Cuetos Roman Grandes miradas (2003). Wer nicht mitspielt, wird entsorgt – wer überleben will, muss mitspielen.

Obwohl sich Chandlers Poetik in der lateinamerikanischen Realität die Knochen bricht, stellt der von Hammett eingeleitete und von Chandler weitergeführte Paradigmenwechsel in der Kriminalliteratur den wichtigsten Ausgangspunkt für den lateinamerikanischen Kriminalroman dar, denn „Hammett zog den Mord aus der venezianischen Vase, in der er so lange gegrünt und geblüht hatte, und pflanzte ihn an die Straße“ (S. 336).

Doris Wieser

Raymond Chandler: Die simple Kunst des Mordens. Briefe, Essays, Notizen, eine Geschichte und ein Romanfragment. (Raymond Chandler Speaking, 1962).
Aus dem Amerikanischen von Hans Wollschläger.
Zürich: Diogenes 2009 [1975]. 368 Seiten. 9,90 Euro.