Durch den Spiegel
Liebste,
so weit voneinander schlafend
teilen wir doch die Nacht.
Und wir träumen einander.
Erwachte ich jetzt,
wäre ich nicht.
Ich träume dich,
die mich träumt.
wenn ich dich wecke,
werde ich verschwinden.
Aus dem Schwedischen von Verena Reichel
Bei der Lektüre der Gedichte von Lars Gustafsson hält man immer irgendwann inne. Man kommt nicht weiter im Verständnis der Verse und fragt sich, was man sich bei vielen Dichtern fragt. Was will uns der Autor damit sagen? Und bei Gustafsson beginnt es manchmal schon bei den Titeln. „Das Feuer und die Töchter“, so der Titel seines neuen Gedichtbandes. Was soll man sich darunter vorstellen? Oder andere Titel von Gedichten in dem Band: „Kurzer Besuch im Frühsommerlicht“, „Alles Eisen verlangt danach, Rost zu werden“, „Aus den Erinnerungen eines Hobels“.
Bevor man schon den ersten Vers liest, ist man verwirrt aber auch neugierig. An was erinnert sich ein Hobel? „Unter der Oberfläche der Dinge/ verbirgt sich nichts anderes/ als die Oberfläche der Dinge./ So lange wie etwas/ von den Dingen übrig bleibt/ ist es Oberfläche. Nichts anderes.“ Man liest das Gedicht immer wieder und langsam dämmert eine Erkenntnis auf. So ist es ja tatsächlich. Du kannst einen Gegenstand so oft und so kunstvoll bearbeiten. Nie wirst du erkennen, was sich unterhalb der Oberfläche befindet. Und ist es nicht auch so mit den Menschen, die du noch so lange und so konzentriert anschauen kannst. Schwer, sehr schwer fällt es dir, in ihr Inneres zu gelangen. Das zu sehen und zu verstehen, was du von außen nicht siehst.
„Durch den Spiegel“ ist ein für die Lyrik des späten Gustafsson sehr typisches Gedicht. Man glaubt es schon bei der ersten Lektüre sofort zu verstehen. Keine schwer zu entziffernden Bilder, keine Verzweigungen bis tief hinein in die abendländische Kulturgeschichte. Keine waghalsige Wortartistik. Ein Liebesgedicht, nicht mehr und nicht weniger. Aber dann zögernd man auch schon. Die Beiden, die dort ihre Nacht teilen, schlafen „weit voneinander“ aber „träumen einander“. Der, der den Anderen träumt ist nicht der von dem der Andere träumt. „Wenn ich dich wecke, werde ich verschwinden.“
Seine Gedichte, so hat es einmal ein Kritiker geschrieben, seien von einer „einfachen Klarheit im Detail. Völlig transparent. Aber auch bei hellstem Tageslicht können die Wege mit seltsamen Windungen überraschen.“ Gedichte von Lars Gustafsson sind immer Geschenke, die man dem Anderen wünscht, damit der Andere vielleicht ahnt, was man sich selber als Geschenk wünscht.
Carl Wilhelm Macke
Nachsatz zur Reihe “Weltlyrik”: Wenn man fast täglich im Rahmen der Koordinierung des Netzwerks „Journalisten helfen Journalisten“ (www.journalistenhelfen.org) mit Mord und Totschlag auf allen fünf Kontinenten konfrontiert wird, dann wundert man sich, warum immer wieder auch verfolgte Journalisten in aller Welt neben ihren Recherchen über korrupte und diktatorische Regime Gedichte schreiben und lesen. Gäbe es sie nicht, es würde uns etwas fehlen – etwas Großes, etwas, das uns leben und träumen, kämpfen und trauern, lieben und verzeihen lässt. Aber “Poesie ist aber auch eine große Sprachübung. Ich kann nicht auf sie verzichten. Sie verlangt tiefe sprachliche Konzentration, und das kommt der Prosa zugute” (Der polnische “Weltreporter” Ryszard Kapuscinski). CWM
Das Gedicht ist erschienen in: Lars Gustafsson: Das Feuer und die Töchter. Gedichte. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel und Barbara M Karlson. Hanser-Verlag, München 2014. 104 Seiten. 15,90 Euro. Foto: Wikimedia Commons, Quelle. Autor: Suz.