Ein Dritter-Advent-Krimi
Advent, Advent, auch bei uns! Unser Gemütlichkeitsbeauftragter Carlos hat eine schöne Geschichte zum Thema, die in jeder der vielen, vielen niedlichen Weihnachtsgrimmianthologien stehen könnte, die uns gerade überfluten. Oder auch nicht.
Das Todeskarussell
Es war der dritte Advent. Cora wachte früh auf und hörte – nichts. Demnach war entweder Schnee gefallen, oder es war etwas anderes passiert. Sie wusste nur nicht, was. Leise stand sie auf und schaute aus dem Fenster: Tatsächlich, im fahlen Schein der Straßenlaterne tanzten die Flocken, und es lag auch schon eine tüchtige Menge Schnee auf Autos, Häusern, Boden und also praktisch allem.
Sie schaute zur Uhr und erschrak. Die Uhr war nicht da. Das hieß, jemand hatte die Uhr gestohlen. Das hieß, sie war möglicherweise nicht alleine in ihrer schicken Zwei-Zimmer-Eigentumswohnung, die sie sich als Schulleiterin bequem finanzieren konnte. Leise ging sie vom einen in das andere Zimmer. Da sie kein Licht gemacht hatte, sah sie fast nichts, aber immerhin doch die Uhr. Wer hatte die da hingestellt?, fragte sie sich erschrocken, nachdem sie sich zunächst gefreut hatte, dass die Uhr wieder da war, und außerdem war sie nackt, was sie jetzt erst bemerkte.
„Sie haben sich gut gehalten“, Cora erschrak wieder, diesmal wie noch nie in ihrem Leben seit dem Sprengunfall. Und sie erkannte die Stimme. „Warten Sie, Lars“, sie hörte wie ihre Stimme zitterte, „Ich ziehe mir nur rasch etwas über.“
„Nicht nötig!“, stöhnte Lars.
„Doch!“, sagte Cora resolut.
„Also gut“, grämte sich Lars.
Rasch schlüpfte Cora in ihren Badeanzug und zog die die hüfthohen Stiefel an.
Lars machte Licht. Sie schauten sich an.
„Vor zehn Jahren“, brach er das Schweigen, „war ich vierzehn. Ich war ja so stolz, dass mich meine Klassenlehrerin auf den Weihnachtsmarkt einlud. Mir Glühwein mit Schuss spendierte! Und dann haben Sie mich missbraucht, während einer Karussellfahrt. Niemand hat mir geholfen.“
Cora nickte. „Das war nicht richtig von mir. Ich war frisch von Joe geschieden.“
„Und dann haben Sie mir im Sommer eine Fünf gemacht!“, Lars wurde heftiger. Ein hübscher Kerl war er geworden. Groß und wild. Zu wild? „Obwohl ich auf 4,4 stand!“
„Ich habe immer gesagt, dass ich die Heftführung mitbenote.“
„Haben Sie nicht.“
„Doch.“
Lars schwieg, sagte dann: „Na ja, ich konnte ja ausgleichen.“
„Warum hast du die Uhr aus meinem Zimmer geholt?“, fragte Cora.
Lars zuckte mit den Schultern. „So ganz genau weiß ich das selber nicht“; sagte er.
Cora lächelte den jungen Mann an. Hinter der männlichen Fassade war da immer noch ein kleiner Junge, das spürte die erfahrene Erdkundelehrerin. „Ich mache es wieder gut!“, gurrte sie. „Komm!“
Verunsichert, aber sichtlich erregt, rückte Lars näher. „Eigentlich wollte ich Sie verhauen …“, stöhnte er, „awer mne umnue …!“ Tief drang ihre Zunge in seinen Gaumen und wenige Sekunden später war der Eindringling tot. Cora hatte sich schon als Studentin angewöhnt, mit einer Rasierklinge im Mund zu schlafen. Nun zahlte es sich aus. Sie trat ans Fenster, es wurde langsam hell. Dritter Advent. Sie würde auf den Weihnachtsmarkt gehen, einen Glühwein trinken, Karussell fahren …
Carlo Schäfer
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Foto: Karussell auf dem Lucia Weihnachtsmarkt in der KulturBrauerei/CC BY-SA 3.0